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Ein paar Monate nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1992 hat mir meine Mutter, die heuer 100 Jahre alt wird, eine Mappe mit vergilbten Briefen, die meisten davon von meiner Großmutter, gegeben, erzählt Edith Kurzweil, geborene Weisz, Universitätsprofessorin und Herausgeberin des angesehenen Literaturmagazins "Partisan Review", die sich zurzeit in ihrer alten Heimatstadt befindet und diese Woche im Siegmund-Freud-Museum das Buch mit den Briefen präsentierte, eine erschütternde Chronik einer jüdischen Familie in Wien in den Jahren 1940/41.
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"Ich kann mich noch gut erinnern, dass sich meine Mutter, wenn sie in den ersten Monaten nach unserer Flucht Briefe aus Wien bekam, ins Badezimmer einschloss und dann mit verweinten Augen herauskam", erzählt Edith Kurzweil. "Als sie mir die Briefe gab, meinte sie fast entschuldigend: Du interessierst dich doch für die Vergangenheit. Ich kenne sonst niemand, der an all das erinnert werden möchte. Ich habe diese Briefe niemals wiedergelesen und ich will mich durch die Erinnerung an das Schicksal meiner Familie nicht noch einmal aufregen".
Zwischen 6. April 1940 und 12. November 1941 schrieb Malvine Fischer ihrer Tochter Mimi Weisz, der es gelungen war, eine Einwanderungserlaubnis in die USA zu bekommen, was die in Wien Zurückgebliebenen bewegte. Waren es zuerst die Sorgen um das Haushaltsgut der Tochter, das in einem Lager hängengeblieben war, um den Schwiegersohn in Frankreich und die beiden Enkelkinder in Belgien, so traten nach der Wiedervereinigung der Familie in den USA bald ganz andere Aspekte in den Mittelpunkt der Briefe. Die antijüdischen Verordnungen der Nazis hatten aus den einst wohlhabenden oder sogar reichen Großelternpaaren arme Schlucker gemacht, denen man fremde Leute als Untermieter in die Wohnung setzte, die von einem Tag auf den anderen nicht wussten, wo sie Lebensmittel und ein bisschen Geld für die notwendigsten Anschaffungen herbekamen. Und schließlich ging es um das nackte Überleben, die Sorge, ob man doch noch ein Visum nach irgendwohin bekommen würde, entweder in die USA oder zu den anderen Kindern, die es in Schanghai nicht so gut getroffen hatten. Noch im letzten Brief, der Mimi Weisz aus Wien erreichte, am 12. November 1941, schrieb ihre Mutter von der Möglichkeit, vielleicht ein Visum nach Kuba zu bekommen.
Edith Kurzweil hat die Briefe ihrer Großmutter und der anderen Verwandten aus Wien mit einem Anhang versehen, in dem die Gesetze und Verordnungen angeführt sind, von denen die Juden in diesen Monaten betroffen wurden, die ihre Lebensmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt haben.
Das im Verlag Turia+Kant erschienene Buch "Briefe aus Wien - Jüdisches Leben vor der Deportation" ist ein berührendes, erschütterndes Dokument.
Wie schon in dem Briefwechsel von Mutter und Tochter angeschnitten, waren die Kinder von Mimi Weisz, Edith und Hans, mit einem Kindertransport nach Belgien verschickt worden. Edith Kurzweil erinnert sich noch heute genau an jenen 9. Februar 1939, als die Mutter und die Großmutter sie zum Bahnhof brachten. Ich war damals 12, Großmutter hat uns noch einen großen Korb mit Essen mitgegeben und ich musste versprechen, auf meinen jüngeren Bruder achtzugeben. Durch einen Geschäftsfreund des Vaters hatten die beiden Kinder die Möglichkeit erhalten, sich in Köln einer Kindergruppe anzuschließen. Bis nach Köln waren sie völlig auf sich allein angewiesen. "Ich hatte furchtbare Angst, wenn SS-Leute oder einfach Männer in Uniformen in unser Abteil kamen". Hatte sie doch schon in Wien erlebt, wie die Nazis mit Juden umgingen. Das Novemberpogrom 1938 hatte sie in der Wiener Tempelgasse miterlebt, wo sie in einer Schneiderwerkstatt lernte. "Ich sah den Tempel brennen, es war beängstigend. Mich hat dann ein Lehrmädchen am Abend zu der Großmutter gebracht, die in der Nähe im 2. Bezirk wohnte. Meine Eltern hatten damals noch die Wohnung in der Wiedner Hauptstrasse. Die haben wir dann aufgeben müssen. Ediths Vater war schon im Herbst 1938 nach Frankreich emigriert. Zuvor hatten ihn die Nazis drei Monate lang in Wien inhaftiert. Er hatte die Wahl, entweder das Geschäft, eine Marmorhandlung, zu verkaufen oder ins KZ nach Dachau zu kommen.
In Brüssel waren Edith und ihr Bruder zuerst in zwei verschiedenen Häusern untergebracht. "Das erste Heim war ziemlich schlimm, es gab sogar Läuse dort. Später bin ich dann in ein Pensionat gekommen. Ich bin auch in die Schule gegangen und habe, die Sprache, da ich ja schon in Wien Französischunterricht hatte, ziemlich rasch gelernt. Das hat mir dann später bei unserer Flucht nach Frankreich sehr geholfen", erzählt Edith Kurzweil.
Am 6. Mai erhielten die Kinder endlich das ersehnte Visum für die Vereinigten Staaten, am 10. Mai marschierten die Deutschen in Belgien ein. Edith und ihr Bruder wurden mit einer hundertköpfigen Kindergruppe nach Südfrankreich evakuiert, in einen kleinen Ort in der Nähe von Toulouse. "Am 3. Juni 1940, an meinem Geburtstag habe ich den Direktor unseres Heimes um Geld für eine Postkarte gebeten, damit ich meinen Eltern schreiben konnte, wo wir überhaupt sind. Als ich in Toulouse auf die Konsulate gegangen bin, hat man mir immer wieder gesagt, ich sollte doch meine Eltern schicken. Mit vielen Schwierigkeiten habe ich dann die noch fehlenden Visa bekommen und man hat uns Kindern auch immer wieder geholfen. Wenn ich mich heute daran erinnere, wie wir durch Spanien und Portugal geflüchtet sind, sehe ich uns immer nur rennen. In Lissabon haben wir die Gangway des Schiffes gerade noch im letzten Moment erreicht".
Auch in den USA war das Leben in den ersten Jahren kein Honiglecken. Der einst wohlhabenden Familie ging es ziemlich schlecht. An allen Ecken und Enden musste gespart werden, denn der Vater brauchte Geld für ein neues Geschäft. Edith hat viele Hilfsarbeiten ausgeführt. In einer Hutfabrik hat sie Hutbänder eingenäht, später Holzperlen bemalt, dann Krawatten gesäumt. "Aber ich war ihnen nirgends schnell genug, Qualität hat nicht gezählt, es musste alles möglichst billig sein, ganz uneuropäisch". Später lernte sie dann Diamantenschleifen. Und am Abend setzte sie ihre Schulbildung fort.
Und auch daheim gab es Schwierigkeiten: "Ich hatte meinen Bruder wie eine Erwachsene durch halb Europa geschleppt und plötzlich war ich wieder das Kind". Edith hat dann ganz früh mit 19 geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich wieder scheiden lassen. Mit ihrem zweiten Mann lebte sie viele Jahre in Italien. Mein Leben verlief dann wie eine "soap opera" meint sie heute.
Nach Wien ist sie mit ihrer Mutter 1956 zum erstenmal zurückgekehrt. "Und als wir zu unserer alten Wohnung gingen in der Wiedner Hauptstrasse, hat unsere ehemalige Hausmeisterin Angst gehabt, dass wir wieder einziehen wollen. Als Schuschnigg damals im März 1938 seine Abschiedsrede gehalten hat, hat sie auf eine Frage meiner Mutter gemeint, sie werde mit dem mitgehen, der ihr zu essen gibt."
Seither war Edith Kurzweil oft in Wien. Die neuen politischen Verhältnisse machen ihr schon ein bisschen Sorge, sie will es aber differenziert sehen. Eines ist ihr aber immer wieder aufgefallen: "Wenn man mich in Deutschland in einem Hotel fragt, warum ich so gut Deutsch spreche und ich dann sage, dass ich 1939 von hier emigriert bin, dann fragt man weiter, in Wien dagegen gibt es dann nur Schweigen."