Zum Hauptinhalt springen

Mit "Attentat" und "Geiselhaft" ist gut zu agitieren

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland der "Salzburger Nachrichten".

Lateinamerikas Empörung über die USA im Fall Morales geht am Kern des Skandals vorbei: dem Verstoß der NSA-Schnüffler gegen die US-Verfassung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

¡Fuera gringos! (Ami raus!) Mit solchen Plakaten empfingen zehntausende Bolivianer ihren Präsidenten Ivo Morales bei der Rückkehr aus Europa mit 13-stündigem Zwischenstopp in Wien. "Gringo" bedeutet wertungsfrei zwar "Fremder", ist aber in Lateinamerika das gängige Schimpfwort für US-Amerikaner. Morales musste in Wien zwischenlanden, weil ihm Italien, Frankreich, Spanien und Portugal den Überflug wegen des Verdachts versagt hatten, dass er den US-Geheimdienstler Edward Snowden von Moskau in das bolivianische Asyl schmuggle.

Boliviens Innenminister Carlos Romero verdonnerte die erzwungene Zwischenlandung in Wien als "Akt der Aggression". Seine Regierung doppelte sofort nach: Die USA hätten gewusst, dass Snowden nicht Morales’ Fluggast gewesen sei, daher sei der Zwischenstopp in Wien der "erste Akt von Staatsterrorismus gegen einen Präsidenten, einen Staat und gegen ein Volk" gewesen. Das brachte die Bolivianer auf die Beine. Ihnen erklärte Morales, dass er die Schließung der US-Botschaft erwäge, denn "ohne die USA stehen wir politisch und demokratisch besser da". Boliviens Verteidigungsminister Ruben Saavedra nahm allerdings Österreich gegen den Verdacht der Komplizenschaft mit den USA in Schutz: Das Flugzeug des Präsidenten sei in Wien nicht durchsucht worden.

Lateinamerikas "linke" Prominenz stimmte in den Protest gegen diese neue Variante des "Imperialismo Yankee" ein. Kuba: "Die willkürliche Zwischenlandung richtet sich gegen ganz Lateinamerika:" Der südamerikanische Zwölf-Staaten-Bund Unasur, der auf den weltweit größten Reserven an Erdöl und den zweitgrößten an Erdgas sitzt, nannte das Überflugverbot "Geiselnahme". Die lateinamerikanische Staatenorganisation OAS schrieb die Luftraumsperre dem Druck der USA zu. Venezuelas Außenminister Elias Jaua beschuldigte die USA, hinter dem "Attentat" auf Morales zu stecken. Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ergänzte: "Das war nicht nur eine Demütigung einer Schwesternation, sondern eines ganzen Kontinents." Und Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff äußerte sich "indigniert, überrascht und besorgt über die Haltung bestimmter europäischer Staaten zu einem Zeitpunkt, da sie sich über US-Spionage aufregen".

Das verweist auf eine politische Zeitbombe. Snowden hatte nämlich durchsickern lassen, dass der US-Geheimdienst NSA seit Jahren in Lateinamerika vorgeblich nach Terroristen schnüffle, vor allem aber die Kommunikation überwache. Hat also Snowden noch Giftpfeile im Köcher: die "private" Verwicklung lateinamerikanischer Politiker in Korruption, Geldwäsche oder Drogenhandel? Immerhin hatte Snowden seine Aufdeck-Aktion damit begründet, dass die NSA "die Privatsphäre der Menschen grob missachtet" - und zwar weltweit.

Der Zwischenfall in Wien taugt bestens für politische Propaganda, zielt aber am Kern der NSA-Schnüffelei vorbei. Der vierte Zusatzartikel der US-Verfassung bestimmt nämlich, dass "das Recht des Volkes auf Schutz vor willkürlicher Durchsuchung nicht verletzt werden darf". Das drückt Morales’ "Geiselhaft" in Wien auf den Rang einer weltpolitischen Fußnote.