Der Deutsche Bundestag steht vor der Anerkennung des ukrainischen Holodomor als Genozid an Millionen Menschen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Sie fielen um, wo sie gerade standen. Auf der Straße, im Hof, in der Stube. Auf einem Foto ist eine junge Frau zu sehen, die tot auf einem ausgetrockneten Feld liegt. Auf einem anderen steht ein kleiner Bub verweint neben der Leiche seines Vaters. Wieder auf einem anderen werden leblose Körper gezeigt, die auf einem Gehsteig an dessen Rand geschoben wurden. Menschen gehen apathisch vorbei. Auch sie haben nichts zu essen und kaum mehr Kraft. Sie haben schon viele verhungern sehen.
Die Bilder sind 90 Jahre alt, sie kommen aus der Ukraine. Es war nicht die erste Hungersnot in der Sowjetunion, schon 1921 hat es eine gegeben. Doch was 1932/33 vor allem in der Ukraine geschehen ist, ist ein nationales Trauma, das bis heute nachhallt. "Holodomor" wird das Grauen genannt, gebildet aus den ukrainischen Worten für "Hunger" und "Pest". Nach Schätzungen von Historikern kamen dabei an die vier Millionen Ukrainer um. Aber auch in anderen Gegenden starben Menschen; in Kasachstan etwa waren es bis zu 1,5 Millionen Personen.
Enteignen und beschlagnahmen
Ursache war keine Naturkatastrophe - die Not war von Menschen gemacht. Brutal setzte die sowjetische Führung die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durch; Bauern, als "Kulaken" gebrandmarkt, wurden enteignet und deportiert. Die Erträge sanken, sie wurden beschlagnahmt. Felder, auf denen Getreide wuchs, wurden von Bewaffneten bewacht. Wer, von Hunger getrieben, an die Ähren gelangen wollte, wer in seinem Keller Erdäpfel versteckte, konnte erschossen werden.
Die Ukraine spricht von Genozid. Und am heutigen Mittwoch will auch der Deutsche Bundestag per Resolution den Holodomor als Völkermord anerkennen. Einen entsprechenden gemeinsamen Antrag haben die Ampel-Koalition und CDU/CSU eingebracht. Darin heißt es unter anderem, der Holodomor reihe sich ein "in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden". Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba äußerte schon via Kurznachrichtendienst Twitter seine Dankbarkeit für die Resolution.
In seinem Land selbst wurde die Hungersnot lange nicht breit thematisiert. Auch kurz nach der Loslösung von der Sowjetunion gab es politische und gesellschaftliche Bedenken dagegen. Erst seit der Orangen Revolution im Winter 2004/2005, schon mit gefestigterem Nationalbewusstsein, nahm sich der ukrainische Staat systematisch des Gedenkens an, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" nachzeichnet. Im nun nahenden Kriegswinter wird angesichts der russischen Angriffe und Zerstörungen vermehrt an die Geschehnisse vor 90 Jahren erinnert.
Moskau wies die Einstufung des Holodomor als Genozid stets brüsk zurück; auch woanders werfen manche Historiker die Frage auf, ob das Verbrechen gezielt gegen das ukrainische Volk gerichtet war. In Russland jedenfalls wird die Hungersnot bis jetzt als ein gemeinsam erlittenes Schicksal dargestellt. Bei jeder Resolution hagelt es scharfe Kritik an der jeweiligen Regierung.
Resolutionen in etlichen Staaten
Denn nicht nur Deutschland will den Völkermord anerkennen. Andere Länder haben dies bereits getan. Nach Angaben des Holodomor-Museums in Kiew haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als ein Dutzend staatliche Institutionen die Hungersnot in der Ukraine als Genozid eingestuft - vom australischen Parlament über die Abgeordnetenhäuser der drei baltischen Staaten und Polens bis hin zu den Senaten der USA, Mexikos und Paraguays. Im April haben auch Tschechien und Brasilien solche Beschlüsse gefasst, in der Vorwoche folgten Rumänien, Irland und die Republik Moldau. In Österreich forderten die Neos eine entsprechende Erklärung.
Es ist nicht das erste internationale Ringen um die Anerkennung eines Völkermords, der von einer Partei nicht als solcher angesehen wird. Ein prominentes Beispiel ist der Genozid an den Armeniern im Zuge des Zerfalls des Osmanischen Reichs 1915 bis 1917. Die Türkei will das keineswegs so einordnen und protestiert heftig bei jeder Resolution. Regelmäßig gibt es diplomatische, teils sogar wirtschaftliche Verwerfungen. In Österreich wurde der Völkermord 2015 anerkannt, in Deutschland 2016.