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Mit Charme am Egotrip

Von Uschi Schleich

Reflexionen
Wer niemals Nein sagt, leidet auch: Die Krankheit heißt Helfersyndrom.
© fotolia

Du bist ein Egoist - das ist nicht gerade ein Kompliment. Dahinter steckt in der Regel der Vorwurf, dass man sich zu viel um sich selbst und zu wenig um die anderen kümmert. Aber eine richtige Portion Egoismus kann durchaus gesund sein.


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Eine meiner besten Freundinnen hat neuerdings weniger Zeit für mich. Sie sagt, das liege an ihrem Bedürfnis, öfter allein zu sein. Ich sage, das liegt an ihrem Therapeuten. Denn der rät meiner Freundin in regelmäßigen Abständen: "Sie müssen sich besser abgrenzen". Abgrenzen also. Früher hätte man dazu noch Egoismus gesagt. Aber der Begriff ist ja eindeutig negativ besetzt, und die Chancen, daraus eine Charakterstärke zu machen, stehen schlecht. Trotzdem gilt aber: Wer mit seinen eigenen Wünschen nicht ein Leben lang zu kurz kommen will, sollte eine gesunde Portion Egoismus an den Tag legen.

Ungesunder Egoismus. Nicht jede Form von Egoismus ist freilich gesund. Vor allem nicht für die anderen. Rücksichtslose Egoisten leiden aber auch selbst unter ihrem Verhalten, meist allerdings unbewusst. Wer immer nur nimmt und niemals gibt, wird irgendwann selbst den treuesten Freund verlieren. Diese Form des Egoismus bezeichnet die deutsche Buchautorin und Psychotherapeutin Doris Wolf als ungesund, fügt aber gleichzeitig hinzu: "Letztendlich verhalten wir uns alle egoistisch. Auch wenn wir dem anderen nachgeben und eigene Bedürfnisse zurückstellen, verfolgen wir damit ein Ziel." Im Streit geben wir nach, weil wir Angst haben, abgelehnt zu werden oder einfach, weil wir Konflikte vermeiden wollen.

Gesunder Egoismus. Abgrenzen. Unter gesundem Egoismus versteht Wolf hingegen, dass man sich seiner Bedürfnisse und Wünsche bewusst ist, sie äußert und sie in sein Verhalten mit einbezieht. Gesunde Egoisten achten nicht nur darauf, was sie selbst wollen, sondern berücksichtigen auch die Bedürfnisse anderer. Und noch etwas: Sobald sich herausstellt, dass der andere ihn schlecht behandelt hat, zieht ein gesunder Egoist klare Grenzen.

Da haben wir es wieder: Abgrenzen. Aber wie? Wie grenzt man sich ab, wenn der beste Freund sich zum siebenten Mal 100 Euro leihen will, obwohl er noch keinen einzigen Cent zurückgegeben hat? Wie sagt man zum Chef ein klares Nein, wenn er will, dass man noch zwei Stunden länger bleibt? Wie lehnt man den Wunsch der Kinder nach noch mehr Taschengeld ab, wie sagt man Eltern, Tanten und Onkeln die Teilnahme am Familienessen ab? Und wie bitte rechtfertigt man sein von allen als rücksichtslos wahrgenommenes Verhalten?

Nein sagen lernen. Ganz einfach, sagen Coaches, Therapeuten und Kommunikationsexperten unisono: Lernen Sie, nein zu sagen. "Viele Zeitkrankheiten, allen voran die Depression, entstehen, weil wir permanent von den Wünschen und Zumutungen der Mitmenschen umzingelt sind", konstatiert der deutsche Psychologe Heiko Ernst. "Die Fähigkeit, sich zurückziehen und abgrenzen zu können, ermöglicht erst gute und dauerhafte soziale Beziehungen. Ganz egal, ob es sich dabei um Kontakte mit Arbeitskollegen, Freunden oder der Familie handelt."

Nein - ein so kurzes Wort und so viele Hindernisse. Wenn Sie zu den Menschen gehören, die es einfach nicht fertig bringen, eine Bitte abzuschlagen, sollten Sie die hohe Schule des Neinsagens lernen, lautet auch die Devise von Irene Becker, Autorin des Buchs "Everybody´s Darling, everybody´s Depp". Einer der gutgemeinten Ratschläge: "Sie müssen ja nicht auf der Stelle ja oder nein sagen." Als ob das so einfach wäre! Man stelle sich vor: In letzter Minute ruft der Chef an und will eine Extraportion Arbeit erledigt haben. Sofort. Da kommt es nicht gut, zu sagen, man würde gern einen Augenblick darüber nachdenken.

Zugegeben, das war ein Extremfall. "Finden Sie heraus, warum es Ihnen so schwer fällt, nein zu sagen", lautet ein Tipp zur Selbstanalyse. Das geht schon leichter. Schließlich macht man sich mit Zurückweisungen ja nicht gerade beliebt, man könnte vielleicht herzlos wirken. Andererseits ist es so unsagbar schön, von anderen gebraucht zu werden - die Todesfalle für alle, die unter einem Helfersyndrom leiden. Und last but not least ist da auch noch die Angst davor, etwas versäumen zu können. Und das wollen wir auf keinen Fall. Also sagen wir lieber ja. Egoismus durch die Hintertür sozusagen.

Nützliche Eigenschaft. Das deutsche Marktforschungsinstitut Infratest hat herausgefunden, dass 91,9 Prozent der Eltern überzeugt sind, dass Kinder heute mehr Durchsetzungsvermögen brauchen. Egoismus sei dafür eine nützliche Eigenschaft, behaupten knappe 45 Prozent der befragten Eltern. Doch zugleich glaubt jeder zweite Befragte, dass Egoismus in Summe eher schädlich ist. "Menschen leben nun einmal in einer Gemeinschaft", kommentiert der Psychologe Michael Thiel das Ergebnis. "Erfolg hat langfristig nur, wer die Regeln dieser Gemeinschaft beherrscht. Wer egoistisch handelt, macht sich nicht nur unbeliebt, sondern auf Dauer einsam."

Respektvolles Nein. Na bitte. Wer will schon einsam sein? Statt zu purem Egoismus rät die Kommunikationsexpertin Tania Konnerth: "Lernen Sie, respektvoll nein zu sagen." Das klingt wie Neinsagen für Fortgeschrittene. Aber es wirkt: Ein respektvolles Nein kann einem schließlich niemand zum Vorwurf machen. Neinsageprofis begründen ihr Nein, statt es zu rechtfertigen. Sie zeigen Verständnis für die Bitte des anderen, bleiben aber trotzdem konsequent. Perfekte Neinsager bedanken sich sogar für das Vertrauen, das ihnen mit einer Bitte entgegengebracht wurde, betonen aber, die Aufgabe trotzdem nicht übernehmen zu können. Die hohe Schule des Neinsagens entpuppt sich somit als Egoistenwerkstatt für Diplomaten. Fehlt nur noch diese Lektion: Sagen Sie nein, indem Sie ja sagen. Wer das schafft, hat mit Bravour bestanden.

Auf Egoismus programmiert. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist Egoismus übrigens das Grundprinzip schlechthin und nicht verwunderlich. "Wenn es um das eigene genetische Überleben geht", erklärt der Wiener Evolutionsforscher Franz Wuketits, "sind wir auf Egoismus programmiert. Auf der anderen Seite können wir aber als soziale Lebewesen auf andere nicht verzichten und sind gezwungen zu kooperieren. Kurz gesagt, wir sind von Natur aus weder gut noch böse, wir sind beides zugleich."

Die Motive für egoistisches Verhalten sind indessen zahlreich, betont die Psychologin Doris Wolf. Oft verbergen sich hinter übermäßigem Ellenbogen-Einsatz große Minderwertigkeitsgefühle: "Die Egoisten haben die Einstellung: Ich brauche unbedingt dieses und jenes, sonst bin ich nichts wert", sagt Wolf. "Egoisten haben nie gelernt, sich in andere einzufühlen. Sie haben die Einstellung, dass ihnen alles zusteht." Es ist die geringe Frustrationstoleranz, an der man rücksichtslose Egos erkennt.

Aha. Machen wir doch gleich die Probe aufs Exempel. Am besten an uns selbst: "Überprüfen Sie einmal, wie Sie selbst damit umgehen, wenn jemand anderer nein sagt", empfiehlt Kommunikationstrainerin Tania Konnerth und stellt eine Menge unangenehmer Fragen: "Können Sie das Nein akzeptieren oder neigen Sie dazu, den anderen umstimmen zu wollen? Finden Sie es angemessen, wenn andere Ihren Bitten nicht immer nachkommen, oder fühlen sie sich dann verletzt? Können Sie mit Ihrer Enttäuschung gut umgehen oder werden sie wütend?" Wenn man enttäuscht reagiert, weil die Traumfrau nicht an die Südsee, sondern nach Sibirien reisen will, wenn man wütend wird, weil der Chef die längst fällige Gehaltserhöhung ablehnt und wenn man sich beleidigt zurückzieht, weil die beste Freundin wieder einmal keine Lust hat, beim Fliesenlegen zu helfen, dann ist also purer Egoismus im Spiel. Fragt sich nur, bei wem? Beim Neinsager oder beim Beleidigten?

Eigene Hirnregion. Nicht nur Psychologen, auch Hirnforscher beschäftigen sich mit dem Phänomen Egoismus. Vor kurzem haben Neurobiologen das Egoismus-Zentrum im menschlichen Gehirn entdeckt. Es befindet sich ungefähr dort, wo man mit dem rechten Zeigefinger hintippt, wenn man jemandem den Vogel zeigt. Diese Hirnregion unterdrückt egoistische Motive und ist dafür zuständig, dass wir uns fair verhalten. Schweizer Hirnforschern ist es nun in einem Experiment gelungen, diesen Unterdrückungsmechanismus durch Magnetstimulation auszuschalten.

Die Folgen waren verblüffend, wie sich anhand des sogenannten Ultimatumspiels zeigen ließ. Dabei bekommt ein Spieler 20 Euro übergeben, die er nach eigenem Gutdünken auf sich und einen zweiten Spieler aufteilen kann. Voraussetzung ist allerdings, dass der andere Spieler der Aufteilung zustimmt. Lehnt er die Aufteilung ab, bekommt keiner etwas. Normalerweise lehnen die meisten Teilnehmer des Experiments Angebote ab, bei denen sie nur 20 Prozent oder weniger bekommen. Jene Teilnehmer aber, die der Magnetstimulation des Egoismuszentrums ausgesetzt wurden, stimmten auch ganz unfairen Angeboten unter 20 Prozent zu. Frei nach dem Motto: besser etwas als gar nichts. Das Gerechtigkeitsgefühl spielte dann keine Rolle mehr, der Egoismus hatte freie Bahn.

Meine Freundin hat mich inzwischen übrigens wieder angerufen. Ob ich ihr denn helfen könnte, ihre neuen Möbel zu transportieren? Dreimal dürfen Sie raten, was ich geantwortet habe. "Ich muss mich abgrenzen."? Falsch. "Nein, hab' leider überhaupt keine Zeit."? Auch falsch. Ich hab' ja gesagt. Schließlich will ich es mir ja mit einer meiner besten Freundinnen, die noch dazu fantastisch Fliesen legen kann, nicht verscherzen.