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Mit Churchill los von Brüssel?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Was uns eine fünf Jahre alte Churchill-Biographie über die Brexit-Strategie des neuen Premierministers Boris Johnson lehrt.


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Für die meisten deutschsprachigen Medien ist der neue britische Premierminister Boris Johnson so eine Art Donald Trump im Westentaschenformat, ein irrlichternder Populist ohne jegliche Substanz, ein "Clown", für den "bizarr" oder "exzentrisch" noch die höflicheren Attribute sind. Nun pflegt der Mann tatsächlich gelegentlich seine Büro-Palme anzuschreien, um sich vor Auftritten auf Betriebstemperatur zu bringen - und doch wäre es ein Fehler der europäischen Politik, ihn in den kommenden finalen Verhandlungen rund um den Austritt des Vereinigten Königreichs nur so wahrzunehmen, wie er meist beschrieben wird. Denn ein Großmaul, das einknickt, sobald Brüssel Entschlossenheit zeigt, dürfte Herr Johnson eher nicht sein. Sich darauf zu verlassen könnte sich als ziemliche Fehlkalkulation erweisen und zu einem "Hard Brexit" führen, den so niemand will.

Wie Boris Johnson wirklich tickt, hat er uns freilich dankenswerterweise in seinem schon vor fünf Jahren erschienenen Buch "Der Churchill-Faktor" einigermaßen offengelegt. Dass er Sir Winston Churchill adoriert, überrascht nicht. Interessant ist aber, dass er vehement die These vertritt, ausschließlich die Person Churchill habe den Triumph Englands über Nazideutschland und damit den Sieg der Alliierten erzwungen. "Ein Mann", behauptet Johnson, habe "den ganzen Unterschied" ausgemacht und damit "die Zivilisation gerettet". Nachtigall, ick hör dir trapsen.

Detailliert beschreibt Johnson, wie sehr Churchill mit seiner Entscheidung, sich 1940 nicht mit Hitler zu arrangieren, sogar im eigenen Kabinett höchst umstritten war und er auch in der konservativen Partei insgesamt alles andere als ein angesehener Leader war. Und er zitiert, was Churchill am Tag seines Amtsantritts gesagt hat: "Mir ist zumute, als ob das Schicksal selbst mir den Weg weise, als wäre mein ganzes bisheriges Leben nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen und auf diese Prüfung." Man muss nicht zwischen den Zeilen lesen, um zum Schluss zu kommen, dass hier Johnson über Churchill schreibt, aber Johnson meint. Dass der rotblonde Johnson auf das rote Haupthaar des jungen Churchill rekurriert, wäre gar nicht notwendig gewesen, man versteht das auch so. Wie jener war auch er in der konservativen Partei höchst umstritten, und wie jener verfolgt er ein politisches Ziel - den Austritt seines Landes aus der EU - mit einer Kompromisslosigkeit, die auch viele seiner Landsleute nicht nachvollziehen können.

Das ist im Kontext der Brexit-Verhandlungen möglicherweise kriegsentscheidend, denn Johnson macht damit glaubhaft, dass er tatsächlich bereit ist, auch die hohen Kosten eines Austritts des Vereinigten Königreichs ohne Vertrag in Kauf zu nehmen. Ob er tatsächlich mit Churchill vergleichbar oder doch bloß ein billiger Abklatsch ist, ist da völlig nebensächlich. Was zählt, ist, dass sich hier jemand einen politischen Bombengürtel umschnallt, der glaubwürdig versichert, diesen im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen auch zünden zu wollen - "als ob das Schicksal selbst mir den Weg weise". Das ist für seine Verhandlungsgegner relevant: Sie wissen, dass sie entweder Johnson ein Stück entgegenkommen können - oder jenen großen Knall riskieren, den Johnsons Vorgängerin Theresa May wohl gescheut hätte. Es wird spannend zu beobachten sein, ob die EU dieses Risiko tatsächlich ungerührt eingehen wird.