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"Handelt es sich um ein Fahrrad?", begrüßt Sergeant Pluck den Erzähler, der auf der Polizeiwache eigentlich den Diebstahl einer goldenen Uhr anzeigen möchte. Der Satz aus Flann O’Briens "Der dritte Polizist" ("The Third Policeman", 1968) ist unter seinen Anhängern längst zur stehenden Wendung geworden - und der postum erschienene Roman zum Sinnbild des begnadeten, aber zu Lebzeiten wenig erfolgreichen Schriftstellers.
"Ich persönlich schaffe es nicht, etwas zu schreiben, was mir auch nur ansatzweise gefällt, allerdings bemühe ich mich nicht sehr", tiefstapelte er 1940 in einem Brief an den US-amerikanischen Schriftsteller William Saroyan. Das gerade fertig gestellte Manuskript des "Dritten Polizisten" war auch gleich mit im Kuvert. Doch es fand sich weder in den USA noch in Dublin oder London ein Verlag dafür. Flann O’Brien erfand kurzerhand die Anekdote vom verloren gegangenen Manuskript, um diese Niederlage nicht publik machen zu müssen.
Durchgeknallte Collage
In Irland zählt der am 5. Oktober 1911 im nordirischen Strabane geborene Satiriker zu den bekanntesten Autoren des 20. Jahrhunderts. Hierzulande hat Kurt Palms Verfilmung von "In Schwimmen-zwei-Vögel" (1997) für eine größere Aufmerksamkeit gesorgt, nachdem bereits Harry Rowohlts kongeniale (Neu-)Übersetzung von O’Briens Werk die deutschsprachige Fangemeinde vergrößerte. Heute sind Pubs in seiner Heimatstadt Dublin, in Boston oder in Graz nach ihm benannt. Unter Literaturwissenschaftern gilt er als Vorreiter des postmodernen Romans.
Flann O’Brien, "nom de guerre" des Beamtensohnes Brian O’Nolan, verfasste einen solchen, längst bevor der Begriff "Antiroman" erfunden war. Sein Erstling "In Schwimmen-zwei-Vögel" ("At Swim-Two-Birds", 1939) ist eine durchgeknallte Collage aus keltischen Sagen, Wildwestroman, Arbeiterlyrik, echten Briefen und Studentenalltag. Ein Buch im Buch im Buch: Der Ich-Erzähler arbeitet an einem Buch über einen Mann namens Trellis. Der wiederum schreibt über das Böse, wofür er sich Figuren in Western und in alten Sagen ausleiht, und sie ziemlich fehlbesetzt. Da ist etwa Furriskey, der Oberschurke, der viel lieber ein braver Ehemann wäre, oder König Sweeney, der dazu verdammt ist, auf Bäumen zu hausen, und eine gute Fee, die ihren Anspruch auf die Seele von Trellis’ Sohn beim Pokern verspielt.
Noch vor dem Erscheinen schrieb O’Nolan an seinen Agenten, dass er über einen Vorschuss froh wäre. "Ich möchte mir nämlich einen schwarzen Hut und andere Accessoires kaufen." Der breitkrempige schwarze Filzhut gehörte zur Standardausrüstung der Dubliner Literaten, zu denen sich Brian O’Nolan nun zählen durfte. Er wählte einen mit nicht allzu breiter Krempe. Schließlich musste der Hut auch für das altehrwürdige Custom House taugen. Dort arbeitete er seit 1935 im Ministerium für Kommunalverwaltung.
Nach Abschluss seiner Studien am University College Dublin, wo O’Nolan als Humorist in der Studentenzeitung auf sich aufmerksam gemacht hatte, entschied er sich für die Sicherheit einer Beamtenlaufbahn. Eine folgenschwere Entscheidung. Als sein Vater im Sommer 1937 unerwartet verstarb, wurde Brian, das dritte von 12 Kindern und der einzige mit einem ordentlichen Einkommen, der Ernährer der Familie. Eine radikale Hinwendung zur Kunst war nun kein Thema mehr.
Ab Oktober 1940 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Myles na gCopaleen (Myles von den Ponys) die Kolumne "Cruiskeen Lawn" (Gefüllter Krug). Die Macht des Katholizismus, die Frömmelei seiner Landsleute sowie ihre Vorliebe für Alkohol und die von der Gälischen Liga gestützte irische Heimattümelei versorgten ihn ständig mit Stoff. Nicht zuletzt waren Politiker und hohe Funktionäre in dem sozial und wirtschaftlich völlig rückständigen Land Ziele seines Spotts. Myles verwendete dazu gern eine Methode, die Karl Kraus in der "Fackel" zu einer eigenständigen Kunst erhoben hat: die (Selbst-)Entblößung gewisser Zeitgenossen und ihrer hohlen Sprache mittels Zitat.
"Cruiskeen Lawn" war sofort ein Erfolg und, wie O’Nolans Biograf Anthony Cronin schreibt, "so etwas wie die Heilige Schrift für intellektuelle Dubliner". Unter seinen Freunden und in den Pubs, die er fleißig frequentierte, wurde der Autor bald nur noch als "Myles" angesprochen. Die Lokale rund ums Custom House erwiesen sich zudem als guter Horchposten für die Anliegen der Volksseele.
Romane und Kolumnen neben der Lohnarbeit zu verfassen - O’Nolan war mittlerweile zum Privatsekretär des Gesundheitsministers aufgestiegen -, zeugt von Disziplin. Das Schreiben ging ihm in jenen Jahren leicht von der Hand, auch wenn sich die kleineren Geschwister, die abends am Esszimmertisch neben ihm ihre Aufgaben machten, über das Geklapper der Schreibmaschine beschwerten.
Umso erstaunlicher ist es, welche Art von Literatur in diesem familiären Umfeld entstand. "Der dritte Polizist" ist eine so komplexe wie absurde Geschichte "aus der Welt der Toten und der Verdammten, in der keine Regel und kein Gesetz (nicht einmal das Gesetz der Schwerkraft) Geltung hat". O’Briens Meisterwerk beginnt mit einem Raubmord.
Auf der Suche nach der vom Komplizen versteckten Geldkassette, ignoriert der Erzähler seinen eigenen Tod und tritt in einen höllisch sinnverwirrenden Kreislauf ein. Auf der Polizeiwache lernt er etwa Sergeant Plucks "Atomtheorie" kennen, nach der es zwischen Fahrrädern und Menschen bei übermäßigem Kontakt zum gefährlichen Molekülaustausch kommt, und Wachtmeister MacCruiskeen führt ihn in die Ewigkeit, in welche praktischerweise ein Aufzug fährt.
"Wurstförmige" Erde
Eine der genialsten Schöpfungen Flann O’Briens ist der Wissenschafter und Philosoph de Selby. Die Erde ist nach dessen Experimenten "wurstförmig" und die Verortung des Menschen bzw. seiner Erfahrungsmöglichkeiten im aneinander gekoppelten Raum-Zeit-Gefüge schlichtweg Humbug. Selbys Theorien und Zitate diverser erfundener Interpreten untermauern - sowohl im Text wie auch in ausführlichen Fußnoten - den ins Irrationale abgleitenden Erzählverlauf.
Die Jahre des Zweiten Weltkriegs, von dem man in der jungen - und im Krieg neutralen - Republik Irland verhältnismäßig wenig spürte, waren eine schaffensreiche Zeit für O’Nolan. 1941 erschien "Irischer Lebenslauf" auf Gälisch ("An Béal Bocht"), eine Parodie auf die erfolgreichen "Gaeltacht"-Romane, in denen "echt irisches" Leben gefeiert wurden. Auch zwei Theaterstücke kamen beim Publikum gut an: "Durst", eine Posse auf das Trinken, und "Faustus Kelly", in dem ein Stadtrat für einen Sitz im Parlament seine Seele dem Teufel verschreibt. Zwar wurden alle drei Werke unter "Myles na gCopaleen" veröffentlicht, trotzdem war es in Dublin kein Geheimnis, wer dahinter steckte.
Als Beamter, dem jede politische Äußerung in der Öffentlichkeit untersagt war, bewegte sich Brian O’Nolan damit auf dünnem Eis. Ohnehin verbrachte er immer mehr Bürostunden im nahen Scotch House, einem Pub, das Myles in seiner Kolumne als "mein Büro" bezeichnete. Es verwundert eigentlich, dass es erst 1953 zum Bruch mit seinem Arbeitsgeber kam. Als Myles gegen das staatlich verordnete gälische Kulturfest "An Tostal" die Feder zückte, überspannte er den Bogen. Er musste seinen Abschied aus dem Staatsdienst einreichen und verlor, bis auf eine magere Rente, sein Einkommen.
Auch die Honorare der "Irish Times" flossen nicht regelmäßig. Oft wurden seine Kolumnen zurückgewiesen, da die Zeitung Angst vor Beleidigungsklagen hatte. Jnzwischen trugen freilich mehr Geschwister zum Unterhalt des O’Nolanschen Haushalts bei. Brian hatte 1948 seine Arbeitskollegin Evelyn McDonnell geheiratet und war mit ihr in eine eigene Wohnung gezogen. Die neu gewonnene Zeit nutzte er allerdings kaum für literarische Projekte.
Auf seinen Kneipentouren traf er sich oft mit Brendan Behan, dem gefeierten jungen Dramatiker, dem das Image des betrunkenen Genies früh zum Verhängnis wurde. Auch Flann O’Brien/Myles genoss einen gewissen lokalen Ruf, dem allerdings eher das Klischee des erfolglosen Genies anhaftete. Mit Artikeln für diverse Provinzblätter, mit seiner Kolumne und später auch mit Arbeiten fürs irische Fernsehen hielt er sich über Wasser. Mehrere Versuche, "die gedankenlose Nachgiebigkeit gegenüber dem Alkohol" zu bekämpfen, scheiterten.
Erst die viel gelobte Neuausgabe von "In Schwimmen-zwei-Vögel" (1960) gab O’Brien wieder schriftstellerischen Auftrieb. Seine pessimistische Sicht auf Mensch und Welt war mit den Jahren aber nicht besser geworden und dem Humor haftete nun etwas Bitteres an. Weder "Das harte Leben" ("The Hard Life", 1962), in dem er die brutale Zucht der Christlichen Brüder während seiner Schulzeit verarbeitet, noch "Aus Dalkeys Archiven" ("The Dalkey Archive", 1964) bestehen den Vergleich mit den früheren Werken. Einige der besten Passagen und Figuren des letztgenannten Romans sind aus dem "Dritten Polizisten" geliehen: der Exzentriker de Selby und ein Sergeant, der der Atomtheorie anhängt.
Rache an Joyce?
Wenig gelungen wirkt der Auftritt von James Joyce, der inkognito als Barkeeper arbeitet und Jesuit werden möchte. Joyce, der epochale Neuerer der Literatur, war nicht zuletzt wegen (Nicht)-Glaubensgründen ins französische Exil gegangen. In "Dalkey" kommt der fiktive Joyce dann tatsächlich zu den Jesuiten. Er darf als Laie deren löchrige Unterhosen flicken. Handelt es sich dabei um eine späte Rache O’Briens, der das lästige Etikett "joyceanisch" nie loswurde?
Den Roman "Slattery’s Sago Saga" konnte der Autor nicht mehr abschließen. Inzwischen hatten die Ärzte Krebs diagnostiziert. Brian O’Nolan verstarb am 1. April 1966, am sogenannten Narrentag. Er beendete die Halluzination der menschlichen Existenz, würde de Selby wohl sagen. Und uns damit trösten, dass der Tod folgerichtig ebenfalls nur eine Einbildung ist - wenn auch die erhabenste von allen.
Neuausgaben:
Flann O’Brien: Werke, 8 Bände in Broschur-Jubiläumsausgabe. Übersetzt und durchgesehen von Harry Rowohlt. Kein & Aber Verlag, Zürich 2011.
-: Trost und Rat. Übersetzt, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Harry Rowohlt. Kein & Aber, 2011.
Christina Walker, geboren 1971
in Bregenz, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien, lebt
und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Bochum.