Zum Hauptinhalt springen

Mit dem Erbadel soll Schluss sein

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Zweite Parlamentskammer soll verschlankt und demokratisiert werden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. Für David Cameron ist es "jetzt an der Zeit, mal endlich weiterzukommen". Fortschritt werde gebraucht, meint der britische Premierminister, "nachdem wir diese Frage hundert Jahre lang diskutiert haben". Für Boris Johnson hingegen ist das Ganze nichts als "liberaldemokratischer Unfug". Der kleine Koalitionspartner habe Cameron eine völlig abstruse Reform aufgeschwatzt, klagt Londons Bürgermeister. Wenn er sich diesen "Fortschritt" im Einzelnen anschaue, stocke ihm der Atem und gefriere ihm das Blut.

Die Reform, zu der die beiden bekanntesten Köpfe der britischen Konservativen derart konträre Positionen vertreten, ist der geplante Umbau des Oberhauses in London. Cameron will, auf Drängen seiner liberaldemokratischen Koalitionspartner, das House of Lords von einer weitgehend ernannten in eine weitgehend gewählte Kammer ummodeln. Einen Plan dazu wurde nun vom liberaldemokratischen Vize-Premier Nick Clegg vorgelegt. Vier Fünftel der Mitglieder eines verschlankten Oberhauses sollen demnach künftig direkt und für höchstens 15 Jahre gewählt statt von der jeweiligen Regierung auf Lebenszeit berufen werden (siehe Kasten). Mit dem Erbadel soll ganz Schluss sein.

Johnson hält das für politischen Wahnsinn und prophezeit "chronische Fehden" zwischen den beiden Kammern des Parlaments in Westminster. So, meint der Mayor, untergrabe man nur die Autorität des Unterhauses (dem er selbst nicht angehört). Tatsächlich sollen mindestens hundert Unterhaus-Abgeordnete der Konservativen ähnlich denken wie Johnson. Viele fürchten offenbar, dass sich ihre Partei einer jahrhundertealten Machtbasis beraubt, wenn sie das House of Lords reformiert. Andere wollen von einer Verfassungs-Reform "zum jetzigen Zeitpunkt", mitten in einer Haushaltskrise, nichts wissen.

Selbst im Labour-Lager, in den Reihen der Opposition, hängt noch so mancher hartnäckig dem Status quo an - oder will den Liberaldemokraten schlicht den von ihnen erhofften Reform-Coup vermasseln. So fügt sich eine Mehrheit der Missmutigen zusammen, die die Reform letztendlich auch zu Fall bringen könnte. Was wahrhaft ironisch ist, weil alle drei maßgeblichen britischen Parteien in ihren Programmen vor den letzten Unterhauswahlen die Reform gefordert haben. Und zwar einhellig und nachdrücklich: Labour und Liberaldemokraten hatten sogar verlangt, dass das gesamte Oberhaus, nicht nur ein Teil davon, künftig gewählt wird.

Halbherzige Modernisierungsversuche

Genau so aber hat sich die von Reformern immer wieder verlangte Generalüberholung der kuriosen Adelsversammlung an der Themse seit Ewigkeiten hingeschleppt. Seit 1911 im "Parliament Act" die Macht des Oberhauses vom (gewählten) Unterhaus begrenzt und 1949 diese Grenze noch etwas enger gezogen wurde, hat sich die britische Politik schwer getan, das Oberhaus weiter zu modernisieren. Regierungschefs aller Couleur gefiel es, das Oberhaus mit dankbaren Gefolgsleuten "aufzustocken". Den radikalsten Einschnitt gab es 1999, als Tony Blair den schockierten Erbadel des Hauses verwies. Nur ein Rumpfbestand von 92 "Life Peers" durfte im House of Lords verbleiben. Das war ein Zugeständnis an die Traditionalisten. Dies Überbleibsel einer lang vergangenen Ära wollen nun die Liberaldemokraten, mit Camerons Billigung, auch noch aus Westminister vertreiben. Doch taktische Überlegungen beider Seiten drohen auch diese Renovierungs-Chance zunichte zu machen.

Dabei wissen selbst die Betroffenen, dass ihr Land seine Volksvertreter, seine Legislative Anno 2012 nicht sehr viel länger vom Volk fernhalten kann. Laut Umfragen fordern mittlerweile schon mehr als zwei Drittel aller Briten die Reform. Nur 5 Prozent haben nichts dagegen, dass ungewählte "Peers" weiter über die Gesetzgebung mit entscheiden - und hinter den Palastmauern Westminsters, in einer Welt persönlicher Begünstigung und sozialen Privilegien, ein unangefochtenes politisches Dasein führen.

Das Oberhaus

Bislang wird keines der 826 Mitglieder des Oberhauses durch Wahlen bestimmt. 92 "Oberhäusler" gehören sogar noch immer dem Erbadel an. Sie können also ihren Parlamentssitz ihren Kindern vermachen. 26 Sitze sind für Bischöfe der anglikanischen Kirche, der Staatskirche von England, reserviert. Alle übrigen Lords und Ladies wurden irgendwann einmal direkt oder indirekt von britischen Regierungen ernannt und sitzen als "Adlige auf Lebenszeit" auf den roten Oberhaus-Plüschbänken. Künftig soll es nur noch 450 Parlamentarier im Oberhaus geben. Ererbte Sitze sollen abgeschafft werden. Die Zahl der Bischöfe soll auf ein Dutzend schrumpfen. Gerade noch 78 Oberhaus-Mitglieder sollen weiterhin – und zwar von einer speziellen Kommission - ernannt werden. Die große Mehrheit aber, also 360 Personen oder vier Fünftel der Versammlung, soll sich direkten Wahlen unterwerfen. Jeder gewählte Oberhaus-Abgeordnete darf nur einmal im Leben, und zwar für höchstens 15 Jahre, Mitglied der Kammer sein. Alle fünf Jahre soll ein anderes Drittel der Sitze zur Neuwahl anstehen – sodass eine gewisse Kontinuität gegeben wäre. Die ersten Oberhaus-Wahlen sollen 2015 stattfinden. 2025 wäre der Wandel dann vollzogen.