Moskau - Die Bewohner des georgischen Bergdorfes Schatili im Kaukasus kannten früher keine abgesteckte Grenze zu ihren tschetschenischen Nachbarn. Hoch in die Berge trieben 20 Familien ihre Kuh- und Schafherden. Die Weiden wurden nach einem ungeschriebenen Gesetz vom Vater zum Sohn weitervererbt. Der zweite Krieg der russischen Truppen gegen das abtrünnige Tschetschenien kam auch nach Schatili.
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Im Dezember besetzten russische Grenzschutz- und Fallschirmjägereinheiten die Grenze zwischen Georgien und Tschetschenien einen Kilometer hinter Schatili und verminten die Berge. Mehrere Familien verloren so ihr Weideland und damit ihre Lebensgrundlage.
Außerdem will das russische Militär mehr als 20 Gebirgspfade an der Grenze zum südlich gelegenen Georgien verminen. Das russische Kaukasus-Oberkommando räumte ein, dass es trotz der Stationierung von Fallschirmjägern und zusätzlicher Grenztruppen immer noch kleinen Rebellenverbänden gelinge, die Grenze nach Georgien zu überschreiten.
Flüchtlinge und so manches Geschoss kamen
Mehr als 148.000 Flüchtlinge sind inzwischen nach Tschetschenien zurückgekehrt, wie die Behörden mitteilten. Nach Angaben des Ministeriums für Katastrophenschutz halten sich gegenwärtig in den Nachbargebieten Tschetscheniens immer noch 221.370 Flüchtlinge auf.
Uralte unbewohnte Steinhäuser aus dem 12. Jahrhundert drängen sich im alten Teil von Schatili an einem steilen Hang. Ein Friedhof mit Grabsteinen aus übereinandergeschichteten Schieferplatten zeugt davon, dass die Religion in Schatili älter ist als das Christentum. Wenige hundert Meter entfernt liegen Skeletthaufen in einer einfachen Schieferhütte. Dorthin zogen sich die Pestkranken vor Hunderten von Jahren zum Sterben zurück, erzählen die Dorfbewohner.
Geschosse flogen im vergangenen November auch auf das Gebiet von Schatili. Die Splitter verletzten Imed Tschintscharulin, als er mit sinem Vater Michail in einer Hütte Rast machte. Der 31-jährige Imed trägt inzwischen eine Kalaschnikow, wenn er den 65-jährigen Michail, einen Wirtschaftsdozenten, der sich in seiner Heimat Schatili auf sein Altenteil zurückgezogen hat, in die Berge begleitet. "Die Russen wollten auch in Georgien den Krieg beginnen", sagt Michail. "Dabei haben wir mit den Tschetschenen immer gut zusammengelebt."
Mit der Schneeschmelze und dem Frühling kommt nun erneut die Angst nach Schatili. Seit Beginn des Jahres waren zwölf OSZE-Beobachter in dem Dorf stationiert. Zu wenig, um die rund 80 Kilometer lange Grenze zwischen Georgien und Tschetschenien zu überwachen. Deshalb wurde die OSZE-Beobachtergruppe auf Wunsch von Tiflis in der Vorwoche auf 42 Mann aufgestockt.
Waffenpfade
Russland wirft Tiflis vor, den Rebellen Durchlass für Nachschub an Waffen und Kämpfern zu gewähren. Georgien weist diese Vorwürfe zurück. "Wir wollen, dass die Grenze stabil bleibt, aber hier kann alles geschehen", sagt der amerikanische OSZE-Beobachter, Major Jerry Thomas. "Wir wissen nicht, was auf der anderen Seite der Grenze passiert." Er zeigt auf die Bergpfade, die sich die steilen Hänge hochschlängeln und sich in den Schluchten verlieren. "Sobald der letzte Schnee Anfang Mai geschmolzen ist, fängt die Bewegung an", meint der russische OSZE-Beobachter Wadim Piwowarow.
Auf der georgischen Seite stehen in Schatili derzeit etwa 50 junge georgische Grenzsoldaten, die mit leichten Waffen ein Vordringen tschetschenischer Rebellen verhindern sollen. Doch sie wissen, dass sie nicht alle Bergpfade in einer Höhe von über 1.500 Metern schützen können.
Das russische Oberkommando will in Kürze etwa 20 Pässe in dem Gebiet verminen. Das Kaukasus-Oberkommando räumte am Dienstag ein, dass es trotz der Stationierung der Truppen immer noch kleinen Rebellenverbänden gelinge, die Grenze nach Georgien zu überschreiten. Die Grenze bei Schatili ist eine Furt im Argun-Fluss, dessen Tal sich weit bis nach Tschetschenien erstreckt. Am Argun endet der schmale Geröllweg, der von dem tschetschenischen Dorf Itum-Kale durch die enge Argun-Schlucht 42 Kilometer nach Schatili führt. Auf dem Berg auf tschetschenischer Seite patrouillieren russische Soldaten. Das Wrack eines roten Busses und zwei verrottete Lastwagen liegen in dem Fluss. Darin kamen im Herbst die Flüchtlinge aus Tschetschenien, die vor den russischen Bombenangriffen flüchteten. Sogar ein schwarzer Mercedes liegt ausgeschlachtet auf einer Wiese.
"Nachts hören wir das Gefechtsfeuer auf der tschetschenischen Seite", sagt der georgische Offizier Malchas. Der tschetschenische Menschenrechtler Ibragim Jachjaew wirft Russland die Zerstörung von Kultur und Umwelt im Kaukasus vor. "Die Russen wollen die Berge unbewohnbar machen", sagt er. dpa