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Mit dem Kopftuch durch Skateistan

Von WZ-Korrespondenten Britta Petersen und Mohammed Qasem Sahebi

Politik

Skateboardklub in Kabul bietet Kindern ein Leben abseits von Armut und Gewalt. | Mittelstand skatet mit Bettlerkindern. | Kabul. Wahidullah Raz Mohammad springt lässig auf sein Skateboard und flitzt über die Halfpipe, dass sein weites afghanisches Oberteil im Fahrtwind nur so flattert. Die Skateboard-Bahn hinter dem Stadion in der afghanischen Hauptstadt Kabul ist seit zweieinhalb Jahren sein zweites Zuhause. "Früher war ich immer auf der Straße und hab Autos gewaschen", sagt der 15-Jährige. "Mein Vater ist arbeitslos und ich habe drei jüngere Brüder. Irgendjemand in der Familie muss ja Geld verdienen." In die Schule konnte Wahidullah aus diesem Grund nie gehen. Ein Einzelfall ist er damit freilich nicht. Laut einem vor kurzem veröffentlichen Unicef-Bericht ist Afghanistan jenes Land, in dem Kinder unter den weltweit schlimmsten Bedingungen aufwachsen müssen. Mehr als ein Viertel der Kinder stirbt noch vor dem fünften Geburtstag.


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Seit Wahidullah beim Verein Skateistan das Skateboard-Fahren als Hobby entdeckte, hat der 15-Jährige aber eine Beschäftigung gefunden, die ihn den tristen Alltag vergessen lässt. "Ich wasche immer noch Autos", sagt er, "meine Familie braucht das Geld. Aber ich habe bei Skateistan viele Kurse besucht und neben dem Skaten auch Englisch gelernt und einen Fotokurs gemacht."

Für die Kinder und Jugendlichen in der noch immer von 30 Jahren Krieg geprägten Stadt ist die Skateboard-Bahn, die der Verein gebaut hat, eine Oase. Es ist einer der wenigen Orte, an dem sie das tun können, was in anderen Teilen der Welt ganz normal ist: spielen, ausgelassen sein und ihre Freizeit kreativ gestalten. "Die Kids in Afghanistan sind nicht anders als Jugendliche sonstwo", sagt Skateistan-Gründer Oliver Percovich, "aber sie haben meistens keine Möglichkeit, sich zu entfalten."

Doch gerade die häufig unter häuslicher Gewalt und Drogenproblemen leidenden Kinder sind für den Australier Percovich der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Afghanistan ist eines der jüngsten Länder der Welt. 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 20 Jahre alt. Und die Kinder und Jugendlichen seien noch beeinflussbar und noch nicht so sehr von den ethnischen und sozialen Konflikten im Land geprägt, glaubt Percovich. Tatsächlich verbringen bei Skateistan Bettlerkinder mit zerrissenen Hosen ihre Freizeit mit den Söhnen und Töchtern des Kabuler Mittelstands.

Botschaften zahlen mit

Percovich kam 2007 zusammen mit seiner Freundin nach Kabul und stolperte in die Arbeit mit Jugendlichen quasi hinein. "Ich bin selbst in meiner Freizeit mit dem Skateboard herumgefahren und hatte immer jede Menge Kids um mich herum, die das auch probieren wollten." Inzwischen hat er nicht nur die Botschaften von vier Ländern (Deutschland, Dänemark, Norwegen und Australien) als Finanziers gewonnen, sondern bekommt auch Skateboards und Ausrüstung von privaten Firmen gesponsert.

Schwieriger als das Material zu besorgen ist da oft, die traditionellen Wertvorstellungen in Afghanistan zu überwinden. Vor allem die Mädchen haben oft noch nie im Leben Sport gemacht. Umso erstaunlicher ist es, dass von den 240 Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 17 Jahren, die derzeit bei Skateistan eingeschrieben sind, 40 Prozent Mädchen sind. Eine von ihnen ist die elfjährige Maharo. "Das Skaten macht den Kopf frei und ist gut gegen die Angst", sagt sie. Sie fürchtet, dass ihre Eltern ihr verbieten werden, den Sport weiter zu betreiben, wenn sie älter wird. Ab der Pubertät wollen viele Eltern nicht mehr, dass ihre Töchter Kontakt mit Burschen haben. "Wenn meine Eltern mir das Skaten verbieten, bin ich traurig", sagt Maharo, "aber ich muss ihr Urteil akzeptieren."

Skateistan versucht deshalb, mit den Eltern der Kinder ins Gespräch zu kommen, und zahlt den Straßenkindern pro Tag 100 bis 200 Afghani (2 bis 3 Euro), damit sie nicht arbeiten müssen, sondern in die Schule gehen können. Der 14-jährige Yakub berichtet stolz, dass sein Trainer Sufi seine Eltern überzeugen konnte, zwei seiner Brüder in die Schule zu schicken. Außerdem werden die Kinder mit dem Bus von zuhause abgeholt und zur Skateboard-Bahn gebracht, da der öffentliche Nahverkehr in Kabul dürftig ist und Taxis unerschwinglich sind.

Doch auch wer eine Schule besucht, hat es in Kabul nicht leicht. Die Amani-Oberrealschule im Villenviertel Wazir Akbar Khan gleicht mit ihren Betonbarrikaden und Schranken inzwischen einer Festung. Und selbst in der Hauptstadt fehlt es oft noch am Nötigsten: Klassenräume, Unterrichtsmaterial und Geld für die Schulküche.

Viele Lehrer würden Fächer unterrichten, von denen sie gar nichts verstehen, weil es nicht genügend Lehrkräfte gibt, klagt Mohammed Belal. Aber das Schlimmste seien Schüler, die regelmäßig mit Waffen in die Schule kämen. "Das sind die Söhne von Kriegsherren", sagt der 16-Jährige. Die bedrohten die Lehrer mit Messern, wenn sie schlechte Noten bekämen.

Über seine Zukunft macht er sich große Sorgen. "60 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos und hängen nur auf der Straße herum", sagt Mohammed. Nur wenige hätten genug Geld, um Freizeiteinrichtungen wie Internetcafes, Bibliotheken oder Malkurse zu besuchen. Mohammed rechnet sich auch kaum Chancen aus, dass er es auf die Universität schafft. "Pro Jahr schließen 200.000 Jugendliche in Afghanistan die 12. Klasse ab, aber es gibt nur 80.000 Studienplätze. Um die zu bekommen, braucht man Beziehungen oder Geld", sagt er.

Angst vor den Taliban

Vor allem die Kabuler Mädchen fürchten in diesem Zusammenhang, dass die Taliban wieder an die Macht kommen könnten. Die 17-jährige Massuda etwa, die sich auf die Aufnahmeprüfung für die Uni vorbereitet: "Von 52 Mädchen in meiner Klasse haben 49 ihre Abschlussprüfung bestanden, aber nur zehn haben eine Chance auf einen Studienplatz", sagt Massuda, die Medizin studieren möchte, aber fürchtet, dass sie ihre Träume begraben kann, bevor das Leben noch richtig angefangen hat.

Über eine Aufnahme an die Universität machen sich die Straßenkinder von Skateistan freilich keine Gedanken. Aber auch sie haben viel zu verlieren. Mirwais (17) etwa, der vom Autowäscher zum Skater-Star aufgestiegen ist und heute als Trainer bei Skateistan nicht nur einen gut bezahlten Job gefunden hat, sondern seine Berufung. Wenn er und seine Schüler nicht mehr Skateboard fahren dürften, bliebe ihnen statt der Halfpipe, sonnendurchfluteten Unterrichtsräumen und neuem Selbstvertrauen wieder nur die Straße - und damit Arbeit, Drogenmissbrauch und Gewalt.