Mitgefühl nimmt zu, wenn man sich körperlich in jemanden hineinversetzt.
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"Wiener Zeitung": Sie erforschen, wie der Körper das Denken beeinflusst. Wie tut er das?Tom Ziemke: Um einen Roboter zu bauen, der Fußball spielt, braucht man eine Kamera, die den Ball sehen kann, und einen Körper, der sich in der Umwelt bewegen kann. Aber hat der Roboter die Art von Körper, den man braucht, um denken zu können? Ich glaube nicht, denn es ist komplizierter. Wenn man eine Gruppe von Testpersonen bittet, Kugelschreiber zwischen den Zähnen zu halten, und eine zweite, die Kulis zwischen den Lippen zu halten, aktivieren die Personen der ersten Gruppe jene Muskeln, die sie zum Lächeln brauchen, und jene der zweiten Gruppe die Muskeln, mit denen sie finster dreinschauen. Jene mit dem Stift zwischen den Zähnen finden in der Folge Cartoons wesentlich witziger als jene mit dem Stift zwischen den Lippen. Der körperliche Zustand entscheidet über die Empfindung.
Leute, die in weichen Sitzen sitzen, treffen andere Entscheidungen beim Autokauf und sind bereit, mehr Geld auszugeben, als Leute, die auf harten Stühlen sitzen. Und Menschen, die sich Botox spritzen lassen, das die Gesichtsmuskeln lähmt, fühlen sich weniger schnell in andere ein, weil sie entsprechende Gesichtsausdrücke schwerer annehmen können. Zwar meint fast jeder, dass er sein Gesicht kaum bewegt, wenn ihm jemand eine traurige, mitleidserregende oder amüsante Geschichte erzählt. Dennoch tun wir es unbewusst. Wenn die zuständigen Muskeln aber gelähmt sind, können wir emotionale Inhalte weniger gut verarbeiten. Empathie ist auch ein körperliches Phänomen, sie funktioniert vielfalls, indem man sich rein körperlich in jemand anderen hineinversetzt.
Was geht dabei im Gehirn vor?
Die kausalen Zusammenhänge sind wenig geklärt. Das Gehirn scheint eine Art von Feedback aus dem Zustand des Körpers zu bekommen, das es als Signal für Wohlfühlen oder Unwohlsein deutet. Der körperliche Zustand beeinflusst somit die Positiv- oder Negativ-Bewertung des Gehirns. In einem Experiment wurden Testpersonen gebeten, fiktive Lebensläufe zu bewerten und einzuschätzen, ob die Kandidaten gut sind. Jene Gruppe, die die Lebensläufe auf einer schweren Unterlage präsentiert bekam, hielt die Kandidaten für besser geeignet als die Gruppe, die nur das Papier in Händen hielt.
Denkt jemand, der 100 Kilo auf die Waage bringt, anders als jemand, der nur 56 Kilo wiegt?
Dieses spezielle Experiment diente dem Nachweis, dass wir das physische Gewicht des Lebenslaufes wahrnehmen und diesem dann auch eine Wichtigkeit zuschreiben, egal ob er sie hat oder nicht. Leichtere Dinge sind schlechter, gewichtige Sachen wichtig. Wir bilden uns zwar gerne ein, dass wir über solchen Vorurteilen stehen, doch die Studien zeigen deutlich, dass wir uns sehr wohl beeindrucken lassen: Wie wir physisch mit den Dingen interagieren, beeinflusst, was wir darüber denken.
Anders zu sehen ist die Tatsache, dass Blinde, Sehende, kleine Kinder, Erwachsene, Gehende oder Querschnittgelähmte die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Begrenzte Möglichkeiten, was das Sensorisch-Motorische betrifft, lassen die Welt anders erleben. Die allermeisten Querschnittgelähmten waren es allerdings nicht immer. Sie wissen, wie es ist, diese Fähigkeiten zu haben, und die Vorstellungskraft bleibt.
Wie ist es für jemanden, der von Geburt an blind ist?
Ich würde davon ausgehen, dass von Geburt an Blinde anders denken. Wenn jemand einen Sinn weniger hat, hat er weniger Bausteine für die Wahrnehmung. Er denkt aber nicht weniger, sondern eben anders. Wenn wir weggehen von den Extremfällen dann denkt mein Sohn, der 1,10 Meter groß ist, anders als ich, weil er nicht über Hindernisse klettern kann, die für mich keine sind.
Woran forschen Sie derzeit?
Noch vor 20 Jahren nahm man an, dass Autisten keine soziale Interaktion haben wollen. Seitdem ist man draufgekommen, dass sie im Grunde soziale Interaktion genau so mögen wie andere Menschen, die menschlichen Zeichen aber schwer lesbar finden.
In Ihrem Gesicht sehe ich, was Sie für glaubhaft halten und was nicht. Autisten können diese Komplexität nicht so gut handhaben. Man kann es ihnen aber erleichtern mit Hilfe von Hunden, die zwar auch komplexe soziale Signale haben, aber nicht so viele. Der Hund ist direkter und einfacher zu verstehen. Autistische Kinder mögen auch Roboter, die etwas menschenähnlich aussehen, aber weniger komplex sind als richtige Menschen. Man hat gezeigt, dass sie soziale Fähigkeiten mit Robotern lernen, die sie später auf Menschen anwenden können. Es ist ein bisschen wie Fahrradfahren lernen mit Stützrädern. Ich leite ein EU-Projekt zu dieser Methode.
Hier kommen wir von den körperlichen zu den geistigen Fähigkeiten, die einen anders denken lassen.
Wo ziehen Sie die Grenze? Über die Interaktion von Körper und Gehirn muss noch viel geforscht werden - etwa wissen wir wenig über die subjektive Wahrnehmung von Schmerz. Für mich ist das Denken wie ein Baum: Es sitzt in den Blättern und der Körper sitzt im Baustamm und den Ästen: Die Blätter könnten ohne den Stamm nicht überleben.
Zur Person
TomZiemkeist Professor für Kognitionswissenschaften an der Universität Skövde, Schweden. Er beschäftigt sich mit Theorien und Modellen zu "Embodied Cognition" und untersucht die Auswirkungen des Körpers auf Denkprozesse. Diese Woche hielt er an der Universität Wien den Vortrag "The Embodied Mind - Sum, Ergo Cogito?" privat