Unterwegs auf den Engadiner Spuren des großen Alpenmalers.
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Irgendwann hören wir auf, die Kehren zu zählen, und überlassen uns dem Rhythmus unserer Schritte. Alpenrosen und Heidelbeerstauden säumen den Weg. Die Früchte sind geerntet, ihr Kraut hat sich rot gefärbt. Spinnweben hängen im Wacholder, ein letzter Gruß des Altweibersommers. In der Ferne brennen die ersten Lärchen. Ein paar Wochen noch, dann haben sie die Nadeln verloren und strecken ihre kahlen Äste dem Frost entgegen.
Zuvor aber erleben wir einen jener Tage, da sich der Herbst ein letztes Mal aufbäumt und seine Farbenpracht vor dem Blau der Oberengadiner Seen und des Himmels zum Leuchten bringt. Wir haben uns zum Schafberg aufgemacht, einer Bergkuppe hoch über Pontresina, sind von der Bergstation der Muottas-Muragl-Bahn talwärts gewandert und haben die Ova de Muragl überquert, ein munter dahinsprudelndes Bächlein.
Legendäres Triptychon
Nun startet der eigentliche Anstieg, ein schmaler, steiler Pfad, der über Steinplatten und Geröll in Serpentinen nach oben läuft. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir die Kuppe auf knapp über 2.700 Metern Höhe. Alle Anstrengungen sind vergessen, die Ausblicke umwerfend. Unsere Augen ziehen vom Piz Nair, einem von gleich mehreren Dreitausendern, über die Seenplatte zwischen St. Moritz und Maloja hinüber ins Rosegtal und zur Bernina-Gruppe mit ihren gerade erst frisch verschneiten, hell funkelnden Eisflächen.
Ein Panorama, das uns seit langem vertraut ist, als Sujet eines der emblematischsten Gemälde von Giovanni Segantini. In seinem legendären Triptychon "Werden - Sein - Vergehen", einem Zyklus über das Wesen des Menschseins und der Natur, bildet die Szenerie, die sich vor uns ausbreitet, den Mittelteil des Kunstwerks. Entstanden ist es auf dem Schafberg, dort, wo wir jetzt stehen und wo jetzt die Chamanna Segantini an jenen einfachen Verschlag erinnert, in dem der Künstler des Nachts Unterschlupf fand.
Die Schutzhütte ist inzwischen ein beliebtes Ziel für Tourengänger, die sich mit ihren Handys auf das inzwischen berühmte Toiletten-Häuschen stürzen - über und über mit dem Schweizer Wappen geschmückt -, den Selfie-Parcours absolvieren und sich danach auf der Aussichtsterrasse bei einer Bündner Gerstensuppe oder einem Plättli mit Käse und Salsiz für den Rückweg stärken. Auch wir können uns nicht sattsehen an diesem Fernblick und tauchen ab in die Magie eines Landstrichs, der, wie Friedrich Nietzsche konstatierte, "so fern vom Leben, so metaphysisch" scheint.
Das Oberengadin, die Gegend zwischen Maloja und S’chanf, einem Dorf gut zwanzig Kilometer nordöstlich von St. Moritz, hat Künstler seit jeher in ihren Bann gezogen: ob Ferdinand Hodler, Giovanni und Alberto Giacometti oder Max Ernst. Einer von ihnen aber hat versucht, die Kollegenschaft an die Felswände zu drücken, um Platz für sich und sein monumentales Œuvre freizuschlagen: Giovanni Segantini.
An ihm war schon zu Lebzeiten alles übermächtig, Selbstbewusstsein ebenso wie Ambitionen. Zu seinen hochfliegendsten Vorhaben zählte jener Pavillon, den er 1896/97 für die Pariser Weltausstellung entwarf. Vor großem Publikum suchte er sich und sein Engadiner Panorama zu präsentieren und ein Gesamtkunstwerk in Szene zu setzen: ein Stück schweizerische Gebirgslandschaft, mit echten Bäumen und Bächen, künstlich erzeugten Wald- und Wiesendüften und den Klängen des Alphorns. Und das Ganze vor der Kulisse eines gigantischen Abbilds des Gebiets zwischen Bernina-, Maloja- und Albula-Pass. Die Krönung seines Schaffens, wie er träumte, und zugleich unbezahlbare Werbung für eine aufstrebende Tourismusregion.
Entsprechend euphorisch ging Segantini daran, die Hoteliers von St. Moritz, Sils und Pontresina für seine kostspielige Unternehmung zu gewinnen. "Das Projekt, welches ich Ihnen vorlege, geehrte Herren Engadiner, Söhne der Alpen", jubelte er in einem Brief aus dem Jahr 1897, "ist kühn, aber klar wie das Sonnenlicht, das diese unsere Berge beleuchtet. [...] Ich beabsichtige, das ganze feste Gerippe dieser Alpenjoche in vollem Lichte und der Klarheit der Luft auf die Leinwand zu bringen, indem ich im Beobachter die vollkommene Illusion erwecke, er befinde sich im Hochgebirge zwischen grünenden Weiden, umgeben von schroffen Felsen, die den Himmel durchzacken, und ewigen Gletschern. [...] Das im Hintergrund gemalte Panorama wird einen Umfang von 220 Metern umfassen und eine Höhe von 20 Metern haben, mit einer Oberfläche von 4400 Quadratmetern. Der Innenraum wird eine Oberfläche von 3850 Quadratmetern umfassen."
Im Eigentum aller
Ein kolossaler Entwurf. Er scheiterte. Zu teuer, befand man im Engadin. Segantini aber mochte sich davon nicht lösen. Er widmete sich fortan der Verwirklichung seines "Trittico della natura", einer bescheideneren Variante des ursprünglichen "Panorama dell’Engadina", und schuf drei großformatige Bilder: "La vita" (190 x 322 cm), "La natura" (235 x 403 cm) und "La morte" (190 x 322 cm) oder "Werden - Sein - Vergehen", wie die Tableaus meist heißen.
Sie hängen im Segantini-Museum in St. Moritz. Sie hängen aber auch, in unzähligen Reproduktionen und Kopien, in den Hallen der Hotels, in Souvenirläden, Kurvereinen und Arztpraxen. Segantini wird stolz und dankbar in die Arme geschlossen, er gehört allen: Pontresina hat die Chamanna Segantini, St. Moritz das Museum und Maloja den Sentiero Segantini, einen Kulturpfad, der verschiedene Stationen aus Vita und Werk des Künstlers anläuft. Darunter sein Atelier und das Chalet Kuoni. Ein prächtiger Bau: Die Segantinis - Vater Giovanni, Lebensgefährtin Bice Bugatti und die vier Kinder Gottardo, Alberto, Mario und Bianca - haben ihn im August 1894 bezogen.
Zuvor hatte der 1858 im trientinischen Arco geborene Maler in Mailand gelebt, wo er nach dem frühen Tod seiner Eltern aufgewachsen war, später in der Brianza und im Graubündner Savognin. Im August 1894 aber richtete er sich im Hochgebirge ein. Frühling, Sommer und Herbst verbrachte er in Maloja, den Winter, der ihm auf der Passhöhe zu unwirtlich erschien, im sehr viel milderen Soglio, der "Schwelle zum Paradies", wie er das Nest im südlichen Bergell nannte.
Immer auf der Flucht vor Steuerbeamten und Gläubigern, pflegte er im damaligen Kuhdorf Maloja einen ungewöhnlich aufwendigen Lebensstil: teure Möbel seines Schwagers, des Designers Carlo Bugatti, kostbares Tafelsilber und Kristallgläser mit Monogramm, Hauslehrer und eine Golfausrüstung für die Kinder. Und natürlich gab er den Bau eines Ateliers in Auftrag, einen Rundbau aus Holz, mit Oberlichten und Gaupen - bis heute ein Wallfahrtsort für Segantini-Pilger, die hier die Aura des Genies zu atmen hoffen. In den Vitrinen und an den Wänden bewundern sie Faksimiles seiner Briefe, einen Skizzenblock oder seinen Rucksack mit Pinseln.
Segantini arbeitete vorzugsweise im Freien und ließ dafür ausladende, mit einer hölzernen Verkleidung versehene Gestelle tischlern, die ihm als Staffeleien dienten. So konnte er die Leinwände vor Witterungseinflüssen schützen. "Ich bin der Welt als Maler des Hochgebirges bekannt", empfahl er sich selbst. "Ich strebte immer weiter hinauf in die Höhen. Von den Hügeln ging ich zu den Bergen unter die Bauern, die Hirten, zu den Bewohnern des Hochgebirges, zu ihren Hütten und Ländereien." Zugleich pries er die Umgebung von Maloja als einen Ort mythischer Dimension. "Das Oberengadin ist die einzige Hochebene Europas, eine Art Dach, nahe am Himmel. Ent- und Begrenzung in einem."
In seinem persönlichen Tibet perfektionierte Segantini seine divisionistische Malweise: ein im Neoimpressionismus wurzelndes Verfahren, bei dem die Farben nicht gemischt werden, sondern in Punkten und Linien auf der Leinwand platziert werden. Aus der Entfernung betrachtet, verweben sie sich zu einem Ganzen und entwickeln so ein unverwechselbares Strahlen und Vibrieren.
Rätselhafte Bilder
Die einzige Segantini angemessen erscheinende Technik, um der Natur zu huldigen: als Schöpferin und Zerstörerin, Quell allen Daseins und jener Gewalt, die den Menschen überfällt und in Ohnmacht und Schmerz zu Boden wirft. Was sich in einer Serie geheimnisvoller, in ihrem überhöhten und zugleich gebrochenen Realismus und der Vielfalt an Symbolen einzigartiger Bilder spiegelt wie etwa "Maloja", "Die Liebe am Brunnen des Lebens" oder "Die bösen Mütter". Viele dieser Gemälde geben Rätsel auf und lassen sich ähnlich schwer einordnen wie Segantinis gesamtes Œuvre: ein Findling in der europäischen Kunstgeschichte.
Die Engadiner Jahre avancierten zur besonders produktiven und lukrativen Schaffensphase. Sammler kauften seine Werke gleich von der Staffelei weg, Anerkennung kam aus ganz Europa. Segantini verstrickte sich in laufend ehrgeizigere Pläne und stand trotzdem mehrfach am Rande des Ruins. Fotos aus jenen Tagen zeigen einen Mann, der vor Vitalität strotzte und sich selbstbewusst vor der Kamera postierte, beim Malen im Freien, auf einem Gletscher, nach der Adlerjagd: ein stolzer Schütze, die Beute salopp über die Schulter geworfen.
Der Schafberg war einer jener Orte, die er regelmäßig aufsuchte. So wie am 18. September 1899, als er mit seinem Sohn Mario und dessen Kindermädchen Barbara Uffer heraufwanderte, um dort sein Triptychon abzuschließen. Viel fehlte ihm nicht, um "La natura" zu beenden, eine pastorale Szene vor dem Hintergrund der Oberengadiner Seenplatte: Bauer und Bäuerin holen ihr Vieh von der Weide, gebückten Hauptes und müde. Das Tagwerk ist vollbracht. Die Sonne versteckt sich hinter den Bergen, bald wird der Abend hereinbrechen und der Horizont unseres Daseins erreicht sein.
Zehn Tage lang bemühte sich Segantini, sein Bild fertigzustellen, und er ignorierte Bauchschmerzen, Erschöpfung und Bewusstseinsstörungen, die ihn plötzlich quälten. Als seine Schwäche schließlich beunruhigend wuchs, wurden seine geliebte Bice und ein Arzt auf den Schafberg gerufen. Doch es war zu spät, um noch einzugreifen. Giovanni Segantini starb am 28. September 1899 an einer akuten Bauchfellentzündung, erst 41 Jahre alt. Seine letzten Worte, wie sie die Familie überliefert hat: "Voglio vedere le mie montagne" - "Ich möchte meine Berge sehen."
Sein Freund und Schüler Giovanni Giacometti, der Vater des ungleich berühmteren Alberto, malte den Toten am Sterbebett: ein abgemagerter Mann mit strähnigem Haar, das Gesicht kantig geworden. Die Krankheit hat in ihm gewütet, geblieben ist die Entschlossenheit in seinen Zügen.
Giovanni Segantini wurde auf dem kleinen Friedhof von Maloja beerdigt. Sein Grab - wie könnte es anders sein? - fällt sofort auf. Selbst im Tod darf die große Geste nicht fehlen. "Arte ed amore vincono il tempo" ("Kunst und Liebe besiegen die Zeit") liest man auf dem überdimensional breiten Granitblock. Giovanni und Bice liegen in der Mitte, Kinder und Kindeskinder ihnen zur Seite. Davor ein Beet mit Steinbrocken, wilden Blumen, Gräsern und Gewächsen: Natur, wie sie ist, nicht gezähmt und übersteigert wie auf den Bildern des Künstlers.
Werden, Sein, Vergehen
Auf der Chamanna Segantini beobachten wir, wie die Sonne den Zenit überschreitet und westwärts gen Maloja wandert. Wir schultern unseren Rucksack und machen uns auf den Rückweg, diesmal in südlicher Richtung und in der Hoffnung, den Tag mit der Sichtung eines Steinbocks zu krönen. Man hat den König der Alpen im steilen Gelände oberhalb von Pontresina so erfolgreich wieder angesiedelt, dass hier knapp zweitausend der vom Aussterben bedrohten Paarhufer residieren. Doch heute ziehen sie es vor, unter sich zu bleiben und keine Audienzen zu geben.
Als wir bei der Alp Languard eintreffen, ist die Dämmerung nicht mehr weit. Die Bauern haben ihre Rinder schon im September in die Ställe ihrer Höfe getrieben. Die Alp wirkt verlassen, kein Hirte, kein Glockengebimmel, nur die leeren Weiden. Bald wird der Winter seine Stille ausschicken und der Schnee die Bergwiesen zudecken. Dann werden auch die Farben aus der Landschaft verschwinden. Giovanni Segantinis Gemälde aber holen sie zurück: Werden, Sein, Vergehen. Der nächste Frühling wird kommen.
Susanne Schaber, 1961 in Innsbruck geboren, lebt als Literaturkritikerin und Reiseschriftstellerin in Wien.