Beim Gipfeltreffen beschwören EU-Spitzenpolitiker die Visionen alter Tage - und wollen der EU neuen Auftrieb geben.
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Brüssel/Wien. Donald Tusk hält es mit John Lennon. In Anlehnung an eines der berühmtesten Lieder des Sängers bezeichnete sich der EU-Ratspräsident als Träumer. "Aber ich bin nicht der Einzige", zitierte Tusk weiter. Denn einige seiner "britischen Freunde" hätten ihn gefragt, ob der EU-Austritt ihres Landes umkehrbar sei. Die Union sei auf Träumen aufgebaut worden, antwortete der Pole - wer weiß also, was alles erreicht werden könne?
Doch der Brexit, über den Tusk zum Auftakt des EU-Gipfels sprach, sollte nicht das bestimmende Thema des Spitzentreffens in Brüssel sein, das am heutigen Freitag fortgesetzt wird - da bereits ohne die britische Premierministerin Theresa May. Im Gegenteil: Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten sollten sich nun in erster Linie um ihre eigene Zukunft kümmern, befand die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dabei setzt sie nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit mit Paris. Sie glaube, "dass gerade auch Kreativität und neue Impulse, die von Frankreich und Deutschland ausgehen, allen guttun können".
Und Merkel wiederum ist nicht die Einzige, die auf einen Auftrieb für die EU hofft, bewirkt durch den neuen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der zu seinem ersten Gipfel anreiste. Der Wahlsieg des betont EU-freundlichen Politikers hat die Stimmung in der Gemeinschaft spürbar verbessert. Die Achse Berlin-Paris rückt nun wieder in den Fokus. Macron selbst will das ebenfalls betont wissen: "Wir arbeiten sehr konkret Hand in Hand", erklärte er in Brüssel. Die beiden Nachbarländer würden mit gemeinsamer Stimme sprechen.
Schon im Vorfeld des Gipfels forderte der Präsident in einem Interview mit europäischen Journalisten einen Neuanfang für Europa - und eine Rückbesinnung bei den französisch-deutschen Beziehungen. "Ich wünschte mir, wir würden zum Geist der Kooperation zurückkehren, wie er einst zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl herrschte."
Doch schon jetzt scheinen manche Pläne ihrer Umsetzung näher als zuvor zu rücken. Einer Stärkung der gemeinsamen Verteidigungspolitik, ebenfalls ein Gipfelthema, steht Paris mittlerweile weniger skeptisch gegenüber als noch vor einiger Zeit. So gibt es - auch in den anderen Mitgliedstaaten - Offenheit für einen Vorschlag der EU-Kommission zur Einrichtung eines Fonds, der zur Finanzierung militärischer Forschung und Entwicklung beitragen soll. Einig sind sich die Politiker in ihrer Forderung nach einer schnelleren Löschung von Propaganda der Terrormiliz IS. Dazu wollen sie die Internet-Anbieter verpflichten.
Ringen um Freihandel
Doch trotz der Rufe nach Einheit gibt es auch weiterhin Bereiche, in denen die Zusammenarbeit sich nur mühsam gestaltet. So sorgt die Verteilung von Flüchtlingen für Zwistigkeiten unter den Staaten. Die EU-Kommission hat erst vor kurzem gegen Polen, Ungarn und Tschechien ein Verfahren wegen Vertragsverletzung eingeleitet. Die Länder tragen einen Beschluss zur Umsiedlung von Asylwerbern nicht mit.
In Handelsfragen herrschen ebenfalls unterschiedliche Meinungen. Einerseits möchte die EU den wirtschaftlichen Austausch so offen wie möglich gestalten. Auf der anderen Seite will sie sich vor unfairen Praktiken schützen - wie vor chinesischen Exporten zu Dumping-Preisen. Doch auch da gibt es Abstufungen: So ist Frankreich protektionistischer eingestellt als so manch anderes Land.
Dass es seine eigenen Unternehmen besonders schützen will, löst in Osteuropa beispielsweise Verärgerung aus. Denn Macron wünscht sich Änderungen bei den Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmern, um einen "unfairen Wettbewerb" mit EU-Bürgern aus Polen oder der Slowakei auf dem französischen Markt zu vermeiden. Kann er dabei mit Unterstützung aus Österreich oder Deutschland rechnen, werden die Osteuropäer wohl heftig dagegen protestieren.
Um die Rechte von EU-Bewohnern drehten sich ebenfalls die Gipfelberatungen zum Brexit. Die Gemeinschaft will sicherstellen, dass ihre Bürger in Großbritannien nicht schlechtergestellt sind, wenn das Land die Union verlassen hat. Umgekehrt möchte Premier May sich für die Briten einsetzen, die in der EU leben. Diese Fragen sollen so schnell wie möglich in den Trennungsverhandlungen geklärt werden. Die haben erst Anfang der Woche in Brüssel begonnen.