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Mit der Brechstange gegen Mursi

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Entlang des Suez-Kanals herrscht Ausnahmezustand.


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Suez. In den Großstädten entlang des Suezkanals gilt seit Sonntag Abend um 21 Uhr Ausgangssperre. In Port Said, Suez und Ismailia dürfen die Bewohner bis 6 Uhr morgens ihre Häuser nicht mehr verlassen. Damit herrscht dort jetzt der Zustand wie in Kairo, Alexandria und Suez vor zwei Jahren, als der Militärrat wegen den Massenprotesten gegen Ex-Präsident Hosni Mubarak Ausgangssperren erließ.

Doch diesmal richten sich die Proteste gegen einen Präsidenten, der demokratisch gewählt und erst sieben Monate im Amt ist. Mursi ist entschlossen, weitere Schritte einzuleiten, um die Gewalt zu stoppen. Er wolle aber keine Abstriche bei Freiheit und Demokratie machen, gab der Islamist in einer Fernsehansprache bekannt und spielte damit unmissverständlich auf seinen Vorgänger Mubarak an, dessen autokratisches Regime die Bürgerfreiheiten erheblich einschränkte. Zugleich lud Mursi die Opposition zu einem Dialog ein, um über eine Lösung der jüngsten Krise zu diskutieren.

"Gespräche sind Zeitverschwendung"

Aber die Opposition lehnt ab. Friedensnobelpreisträger und Ex-Chef der Wiener Atomenergiebehörde, Mohammed ElBaradei, teilte gestern Nachmittag in Kairo mit, Gespräche mit dem Präsidenten wären Zeitverschwendung. Mursi solle zunächst einmal die Verantwortung für das jüngste Blutvergießen übernehmen, bevor man sich mit ihm an einen Tisch setzen werde. Seit der Urteilsverkündung im sogenannten Fußballprozess am vergangenen Samstag sind insgesamt 41 Menschen ums Leben gekommen, fast 1000 wurden verletzt.

Dass es dem Richter nicht wohl war, als er die 21 Todesurteile für die Fußballfans verlas, war unschwer zu erkennen. Er gab keine Begründung, sagte nur, dass für die weiteren 52 Angeklagten am 9. März der Richterspruch erfolge. Die Sitzung dauerte nur wenige Minuten. Danach beeilte er sich, von der Bildfläche zu verschwinden. Er wusste, dass dieser Richterspruch erheblichen Zündstoff birgt. Seitdem sind allein in Port Said 36 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Auch zwei Fußballspieler, Torwart Tamir al-Fahlah und Stürmer Muhammad al-Dadhawi von Al-Masry, sind unter den Toten. Anhänger oder Familienmitglieder der Verurteilten haben das Gefängnis gestürmt und Polizeistationen in Brand gesteckt. Mohammed Mursi schickte Panzer in die Stadt am oberen Ende des Suezkanals. In Kairo dagegen brach bei den Anhängern der dortigen Fußballmannschaft frenetischer Jubel über die Urteile aus.

Was vor fast genau einem Jahr, am 1. Februar 2012, im Stadion von Port Said geschah, ist zum explosiven Politikum geworden. Nach dem Ende des Fußballspiels zwischen der Kairoer Mannschaft Al-Ahly und dem Fußballklub von Port Said Al-Masry, das die Kanalbewohner gewannen, gingen die Fans der beiden Vereine auf dem Spielfeld mit Brechstangen, Messern, Flaschen und Steinen aufeinander los. Die Auseinandersetzungen endeten mit dem größten Massaker in der Geschichte des ägyptischen Fußballs. 74 Menschen, zumeist Anhänger von Al-Ahly, wurden getötet und über 500 verletzt. Es ging ein Aufschrei durchs Land. Denn auch am Nil gehört der Fußball zu den beliebtesten Sportarten und begeistert die Massen. Doch was anderswo mit Rowdytum bezeichnet wird, Haftstrafen und zeitlich begrenzte IFA-Sperren mit sich bringt, bekommt im revolutionären Ägypten eine andere Dimension. Denn der Fanklub der Kairoer Mannschaft, die Ahly-Ultras, spielte eine tragende Rolle bei der Revolution am Tahrir-Platz. Als die Massendemonstrationen gegen Husni Mubarak in vollem Gange waren, fungierten die Ultras als Ordnungskräfte und stellten sich den Schlägertrupps des alten Regimes in den Weg, als diese auf Kamelen und Pferden auf die Demonstranten losritten und sie zu zertrampeln suchten. Nach dem Massaker in Port Said hieß es, dass unter den Angreifern Mitglieder des Innenministeriums gewesen seien, Schergen von Ex-Präsident Hosni Mubarak, die sich an den Ultras rächen wollten. Damals regierte noch der Militärrat (SCAF) in der ägyptischen Hauptstadt Kairo.

Doch die Todesurteile betreffen niemanden aus dem damaligen Innenministerium oder dem Umfeld des von vielen gehassten Innenministers Habib al Adli, der zusammen mit Hosni Mubarak zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Revision gegen das Urteil wurde vor kurzem stattgegeben. Das Verfahren gegen Mubarak und seinen ehemaligen Innenminister wird demnächst wieder aufgerollt. Die 21 Verurteilten sind jedoch allesamt Anhänger des Fußballklubs Al-Masry von Port Said. Insgesamt sind 73 Menschen wegen des Massakers angeklagt, unter ihnen neun Polizisten. Von Al-Ahly aus Kairo steht keiner auf der Anklagebank.

Ermittlungen wegen "Anstiftung zum Umsturz"

Da Ausschreitungen befürchtet wurden, ist die Urteilsverkündung kurzerhand von Port Said in die Hauptstadt Kairo verlegt worden. Angeblich, so wurde zwei Tage vorher als Begründung für die Verlegung bekannt gegeben, habe der neue Generalstaatsanwalt zusätzliche Beweise vorzuliegen. Talaat Ibrahim Abdullah wurde von Präsident Mohammed Mursi eingesetzt, nachdem er den ungeliebten Abdel Maguid Mahmoud nach einem langen Machtkampf mit der Justiz entlassen hatte. Abdullah selbst wollte nach nur einem Monat zurücktreten, nachdem seine Kollegen ihm die Zusammenarbeit verweigert hatten.

Mursi bat ihn zu sich und überredete den Juristen, seine Position zu verteidigen. Seitdem hat der Oberste Chefankläger Ägyptens sehr widersprüchliche Untersuchungsverfahren angestoßen. So wird auch gegen Oppositionsführer und Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei und den bei den Präsidentschaftswahlen Drittplatzierten Hamdeen Sabahi wegen "Anstiftung zum Umsturz" zurzeit ermittelt. Kein Wunder also, dass die beiden Herren nicht zum Dialog in den Präsidentenpalast gehen wollen. Hamdeen Sabahi sagte am Montag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit ElBaradei, Mursi müsse erst die Unabhängigkeit der Justiz garantieren, bevor man mit ihm reden könne.