Unschuldsvermutung als mediales Damoklesschwert. | Ein Grundrecht findet Eingang ins Kabarett. | Wien. Journalisten in Österreich fließt es fast schon automatisch aus der Feder. Haben sie ein paar Sätze über aktuelle Skandale in ihren Computer getippt, wäre es aufgrund der Häufigkeit des Gebrauchs arbeitsvereinfachend, wenn sie diesen Begriff schon gespeichert hätten und er nur mehr durch einen Kurzbefehl am Ende des jeweiligen Absatz eingesetzt wird: "Es gilt die Unschuldsvermutung."
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Hat man die Printmedien in den letzten Jahren beobachtet, ist es leicht zu erkennen, dass kaum ein anderes Wort so oft verwendet wurde wie dieses - das aber meistens in der Berichterstattung aus der Wirtschaft und nicht in der Chronik, wo an sich Mord, Totschlag und Überfälle in die Zeitungsseiten finden.
Kann das als Zeichen gewertet werden, dass Journalisten, gerade die des heimischen Boulevards, die mit diesem Hinweis eher spärlicher umgegangen sind, nun strenger die Menschrechtskonvention und die Mediengesetze beachten? Oder hängt das mit der möglichen Erkenntnis zusammen, dass Wirtschaftskriminalität, Korruption oder politische Begünstigung von Managern, Lobbyisten oder generell Unternehmen doch keine Kavalierdelikte sondern strafrechtlich zu verfolgende Vergehen sind? Und um dies anzuzeigen wird der Begriff häufig verwendet?
Wird in einem Artikel über eine Verhaftung, ein Verhör oder eine Gerichtsverhandlung - sei es nun wegen Mordes, Totschlags, Betrug oder Krida - berichtet, hat der Beschuldigte oder Verdächtige das unumstößliche Grundrecht, bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten. Es ist ein Grundprinzip rechtsstaatlicher Strafverfahren. Um dieses Recht durchzusetzen gibt es strafrechtliche Verbote (falsche Verdächtigung, üble Nachrede, Verleumdung) und diese können zivilrechtlich durch verschiedene Ansprüche, wie Gegendarstellung, Widerruf oder Schadensersatz, geltend gemacht werden.
Darauf soll in den Massenmedien hingewiesen werden. Was wie erwähnt bei Delikten aus Wirtschaft und Politik zurzeit bis übereifrig praktiziert wird. Artikel, Reportagen und Analysen strotzen in den letzten Jahren oft von Zusätzen, wie "Es gilt die Unschuldsvermutung" oder "Für ihn/sie gilt die Unschuldsvermutung". Nicht nur bei den Qualitätszeitungen und -magazinen, sondern diese Praxis findet sich auch in den Boulevard-Medien, was manchmal zu Zeilenengpässen führen kann. Denn viel Platz steht den Journalisten des Boulevards für recherchierte Artikel ohnehin nicht zur Verfügung und einiges davon müssen sie dann noch diesen "Ceterum censeo"-Satz zur Verfügung stellen.
Pendel der Wahrnehmung
Blättert man in diesen Medien von den Wirtschaftsseiten zur Chronik, ändert sich dieses Bild sofort. Bemerkenswerterweise steht im Chronik-Ressort dieses Grundrecht anscheinend nicht hoch im Kurs. Denn da findet sich bei Verhaftungen kein solcher Hinweis. Da wird sofort über das Motiv, die Schuld des Beschuldigten schwadroniert, oft an den medialen Pranger gestellt, ohne die Möglichkeit einer ausgewogenen Gegendarstellung in der Berichterstattung.
Doch das Pendel der Wahrnehmung der Unschuldsvermutung schlägt in letzter Zeit in die gegenteilige Richtung. Das hängt mit der Komplexität der Kriminalfälle aus der Wirtschaft zusammen. Welcher Normalbürger - und auch vielen Journalisten fehlt hier das Expertenwissen - kann schon das Ponzi-Schema von Bernard Madoffs Pyramidenspiel erklären? Wer die Vorteile der Meinl-Bank ihre Aktiengesellschaften auf den Kanalinseln anzusiedeln, was gravierende Nachteile für die Aktionäre mit sich brachte? Wer die vielschichtigen Freundes- und Familienbande des ehemaligen Finanzministers, die wahrscheinlich bei Verkäufen von Staatsbesitz, der Privatisierung einer Provinzbank oder auch bei der Einrichtung einer privaten Website Millionen an (Steuer-)Geldern ungemein profitiert haben. Und nach langen, sehr langen Untersuchungen dürfte die Wiener Staatsanwaltschaft der Verdacht gekeimt sein, dass Karl-Heinz Grasser auch davon profitiert haben könnte. Jetzt ist es mit Sicherheit angebracht, die Unschuldsvermutung anzubringen: Für ihn gilt natürlich die Unschuldsvermutung.
Diese und viele andere Fälle haben gemeinsam, außergewöhnlich verschachtelt zu sein. Um den vermeintlichen Vergehen auf den Grund zu kommen, müssen eigene Sonderkommandos gebildet werden - bestehend aus Steuerexperten, Handelswissenschaftern, Aktienrechtsspezialisten und Versicherungsmathematiker -, die sich wochen-, monatelang in die Materie einarbeiten müssen und eine Papierflut ungeahnten Ausmaßes produzieren. Allein die Akten der Bawag-Affäre umfassen mehr als 70.000 Seiten. Diese Komplexität sprengt oft jeden Rahmen einer ausgewogenen Berichterstattung, und so verstärkt sich der Eindruck, dass die Verwendung der Unschuldsvermutung in diesen Fällen eher als Punzierung verwendet wird. Unter dem Prinzip: Wir verstehen nicht, worum es eigentlich geht und es ist viel zu mühsam und langwierig, sich in diesen Fall einzuarbeiten, aber der Verdächtige wird schon etwas Dreck am Stecken haben. Deswegen bekommt er jetzt die Unschuldsvermutung als "Schuldsvermutung" umgehängt.
Juristisch wasserfest
Die Konnotation hat sich sehr stark in diese Richtung geändert, denn es mag schon sein, dass zum Beispiel Bankmanager unglaubliche Abfindungen und "Boni" zugesprochen bekamen, die dann nach dem Konkurs der Bank gerichtlich untersucht wurden. Aber nichtsdestotrotz standen diese Dinge in ihren Verträgen, die wahrscheinlich juristisch wasserfest sind.
Wenn der Begriff "Unschuldsvermutung" immer weiter zu einem Kainsmal wird, dann wäre der nächste Schritt für die Betroffenen jener, gegen diesen Begriff rechtliche Schritte zu unternehmen. Was bedeuten könnte, einen Widerruf, eine Gegendarstellung dagegen einzubringen. So weit ist es noch nicht, aber dass jetzt das Theater im Wiener Rabenhof die Unschuldsvermutung zum Thema eines Kabarettprogramms macht, zeigt deutlich die Richtung an, in die es gehen kann.
Das Kabarettprogramm
Kabarettist und Autor Florian Scheuba nimmt sich in seinem neuen Programm eines Begriffes an, der seit Jahren durch die österreichischen Medien geistert: der Unschuldsvermutung. Hauptsächlich besteht das Programm aus Originalzitaten, die die üblichen Verdächtigen, wie Karl-Heinz Grasser, Julius Meinl V., Helmut Elsner oder Alfons Mensdorff-Pouilly, im Laufe ihrer oft tragik-komischen Medienkarriere von sich gegeben haben. Florian Scheuba mimt dabei Heinz Conrads, ein Sinnbild heimischer Biederkeit, der wiederum als Showmaster fungiert und diese netten Herren zu sich ins Studio lädt. Dargestellt wird die Crème de la Crème österreichischer Unschuldslämmer unter anderem von Robert Palfrader, Gregor Seberg oder Erwin Steinhauer.
"Unschuldsvermutung" im Wiener Rabenhof Theater, ab 17. November, www.rabenhof.at