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Mit einer Handvoll Pesos

Von Ronald Schönhuber aus Manila

Wirtschaft
Eine Aufsteigerin mit Kleingeld: Anamaria Maestrocampo wurde mit Hilfe von Mikrokrediten zur erfolgreichen Kleinunternehmerin. Heute besitzt sie zwei Geschäfte und möchte weiter investieren.
© rs

In einer Elendssiedlung bei Manila wurden aus Hausfrauen Unternehmerinnen.


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Manila. Eigentlich ist Lower Buhanginan ein von Gott verlassener Ort. Von der Hauptstraße, die das 50 Kilometer entfernte Manila mit der Kleinstadt Antipolo verbindet, führen bröckelnde Betonstufen einen steilen und morastigen Abhang hinunter zu den knapp 50 Häusern der Elendssiedlung. Die schäbigen Hütten, die oft über kaum mehr als ein paar Quadratmeter Grundfläche verfügen, sind mit verwittertem Wellblech gedeckt, in den Hinterhöfen picken Hühner zwischen alten Autoreifen und Müll im vom Monsun völlig aufgeweichten Boden, um vielleicht ein wenig Essbares aufzustöbern. Schlamm und Staub bestimmen hier das Leben das ganze Jahr über. In der Trockenzeit, wenn der Morast aufgetrocknet ist und der Regen nicht mehr die Luft reinwäscht, wehen vom Steinbruch oben am Hügel riesige Staubschwaden herunter und hüllen das Dorf ein. Der Ortsname Buhanginan bedeutet auf Deutsch übersetzt nichts anderes als "vom Staub bedeckt".

Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben kann mitunter so simpel sein wie blaues Plastik. Seit knapp zwei Jahren führt ein dickes Bündel an Kunststoffleitungen den Abhang hinunter und verteilt sich dann dort zwischen den Hühnerställen und den Hütten. Das Wasser, das früher mühsam in Kanistern herbeigeschafft werden musste, sprudelt seitdem direkt in den Häusern aus den Wasserhähnen. Das Geld für die Finanzierung des blauen Leitungsgeflechts stammt allerdings weder von den Kommunalbehörden noch vom philippinischen Staat, sondern von den Frauen im Dorf, die in den vergangenen paar Jahren mit Hilfe von Mikrokrediten Kleinunternehmerinnen geworden sind und nun teils sogar mehr verdienen als ihre Männer.

Anamaria Maestrocampo ist eine dieser Frauen. Vor zwölf Jahren hatte die heute 47-Jährige sich ein Herz gefasst und war zusammen mit anderen Frauen und einem klammen Gefühl in der Magengegend ins Nachbardorf gegangen, wo das Mikrofinanzinstitut Ashi eine Informationsveranstaltung abhielt. Dass sie, eine einfache Hausfrau, die weit jenseits der Aufmerksamkeitsschwelle jeder Bank lag und keine Sicherheiten besaß, einen Kredit aufnehmen sollte, um Kleinunternehmerin zu werden, erschien ihr damals nur schwer vorstellbar. "Doch ich wusste, wenn ich kein Risiko eingehe, werde ich es nicht schaffen, meinen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen", sagt Maestrocampo. Wie knapp die Hälfte der Filipinos musste sie damals mit weniger als zwei Euro am Tag auskommen, viel zu wenig, um die Schulgebühren zu bezahlen und gleichzeitig eine Familie zu erhalten.

Entgegen ihren ersten Befürchtungen bekam Maestrocampo damals einen Mikrokredit. Mit den 3000 Pesos (umgerechnet 60 Euro) kaufte sie ein paar Hühner und begann zu züchten. Mit dem Geld, das sie verdiente, bediente sie die Kreditraten und sparte Kapital an. Die Geschäfte liefen gut für Maestrocampo und so wagte sie den nächsten Schritt. Mit Hilfe eines neuen Kredits eröffnete sie in Lower Buhanganian einen kleinen Gemischtwarenladen und verkaufte Reis, Nescafe und Hygieneartikel in Einzelpackungen, über die Jahre kamen noch zwei Motorrad-Dreiräder dazu, die sie an unabhängige Fahrer vermietet.

Ideen und Probleme: Die Frauen lernen an sich selbst

Heute ist Maestrocampo gewissermaßen das Aushängeschild von Ashi. Zusätzlich zu ihrem Geschäft in Lower Buhanganian besitzt sie seit kurzem auch einen Marktstand in der Stadt. Der Kredit, den sie dafür aufgenommen hat, fällt mit 300.000 Pesos (6000 Euro) in die höchste Kategorie, die Ashi vergibt. Noch sichtbarer wird der Aufstieg aus der allerbittersten Armut aber an anderen Dingen. Erstmals in ihrem Leben besitzt Maestrocampo eine Bankomatkarte und ein richtiges Konto. Ihr Haus, das noch immer am gleichen Fleck in Lower Buhanganian steht, hat zwar noch immer unverputzte Wände, doch es ist mittlerweile doppelt so groß wie früher und verfügt über einen gefliesten Boden. Selbst ein alter Computer steht seit einiger Zeit in einem Eck des Wohnzimmers.

Ein von Fliesen und Haushaltselektronik begleiteter Aufstieg, wie ihn Maestrocampo erlebt hat, ist derzeit allerdings noch eher die Ausnahme als die Regel. Für die meisten der 25.000 Frauen, die sich bei Ashi Geld borgen, geht es um viel kleinere Dinge. Mit den Krediten werden etwa die Zutaten zur Herstellung von Geschirrspülmittel gekauft, das zu Hause fertig abgemischte Produkt wird dann mit einer kleinen Marge weiterverkauft. Andere Frauen stellen Tragetaschen aus gebrauchten Plastikfolien her oder benutzen das Geld, um sich in einer nahen Fabrik Textilreste zu besorgen, die sie dann mit Hilfe eines Holzrahmens zu einem einfachen Teppich verarbeiten. 10 Pesos, umgerechnet 20 Eurocent, kostet das fertige Produkt dann.

Wie man sich im Geschäftsleben bewährt und welche Produkte am Markt bestehen können, lernen die Frauen dabei oft von sich selbst. Wer von Ashi einen Kredit bekommt, muss zunächst ein zehntägiges Training absolvieren und dann einmal in der Woche an einem sogenannten Center-Meeting teilnehmen. Dabei werden die Kreditraten beglichen und die in Fünfergruppen organisierten Kreditnehmerinnen, die auch gegenseitig für sich bürgen, berichten über ihre Fortschritte und neue Ideen, aber auch über Probleme und Misserfolge. In schwierigen Fällen werden die Frauen zudem von den Ashi-Mitarbeitern, die das Darlehen auch stunden können, beraten und betreut. "Es kommt immer wieder einmal vor, dass das Geld erst zu späterem Zeitpunkt zurückgezahlt werden kann, weil die Mittel etwa für ein erkranktes Familienmitglied gebraucht werden", sagt Ashi-Projektmanager Jose Jessie Arzaga. Die Erfolgsquote ist dennoch beeindruckend: Trotz des hohen Zinsniveaus auf den Philippinen, das die Kreditrate auch bei den von Ashi vergebenen Darlehen auf 25 Prozent schraubt, zahlen nur vier Prozent der Frauen das ausgeborgte Geld nicht zurück.

Das als Non-Profit-Organisation konstituierte Mikrofinanzinstitut ist allerdings selbst auf Hilfe angewiesen, um die knapp vier Millionen Euro zu stemmen, die es als Kredite vergeben hat. Knapp 600.000 Euro des Refinanzierungsvolumens werden etwa von Oikocredit zur Verfügung gestellt, das weltweit zu den größten privaten Finanzierungsquellen der Mikrofinanzbranche gehört. Die Genossenschaft war 1975 vom Ökumenischen Kirchenrat in Reaktion auf den Vietnamkrieg gegründet worden. Mit der Schaffung von Oikocredit wollte man sicherstellen, dass die Rücklagen kirchlicher Einrichtungen nach ethischen Kriterien veranlagt werden und nicht etwa über Umwege zur Finanzierung von Waffenkäufen verwendet werden. Heute kommt ein wesentlicher Teil der als Darlehen vergebenen Gelder allerdings von privaten Investoren in Europa und den USA, die mit ihrer Geldanlage nicht nur eine Rendite erwirtschaften wollen, sondern zugleich auch etwas Gutes tun möchten. Knapp 43.000 gibt es weltweit bereits davon.

Mit dem Unternehmen kommt auch die Würde

Die ethische Orientierung sieht man bei Oikocredit und den unterstützten Partnern trotz dieses Wandels der Anlegerstruktur aber nach wie vor als konstitutiven Wert. Lange bevor die Mikrofinanzbranche in Indien und Bangladesch durch zunehmende Profitorientierung (siehe Kasten) in Verruf geriet, hat man hier bereits Programme entwickelt, um sicherzustellen, dass mit den Darlehen auch die konkreten Lebensumstände der Kreditnehmer verbessert werden. Die Projekte werden streng auf ihre soziale Verträglichkeit hin überprüft, neben Unternehmergeist und Selbstbewusstsein will man den Ärmsten der Armen ein Gefühl von Würde mitgeben. Selbst eine Art Eheberatung gibt es, die den Männer helfen soll, damit umzugehen, dass die Frauen nun teils mehr verdienen als sie. "Man kann den Armen Geld in die Hand geben, aber wenn man ihnen nicht gleichzeitig auch Strategien in die Hand gibt und ihnen hilft, ihre Fähigkeiten auszubauen, wird von dem Geld irgendwann einmal nichts mehr da sein sagt", sagt Maria Theresa Pilapil, die Vorsitzende des Oikocredit-Regionalbüros auf den Philippinen.

Luna Apin hat jedenfalls ihre Entscheidung, einen Kredit aufzunehmen, noch nie bereut. In ihrem Geschäft hat die 40-Jährige mit dem puppenhaften Gesicht zunächst Reis verkauft, heute verdient sie das meiste Geld mit dem Vertrieb von Prepaid-Telefonkarten. Wenn alles so funktioniert, wie Apin sich das erhofft, soll ihr Geschäft mithilfe eines neuen Kredits noch weiter wachsen. "Die Kinder werden größer und die Ausgaben steigen", sagt sie. Dass Apin mittlerweile zur Unternehmerin gereift ist, lässt sich aus vielen ihrer Sätze herauslesen. "Früher habe ich viel Zeit bei einem Schwätzchen mit den anderen Frauen verbracht, heute geht sich das kaum noch aus. Meine ganze Aufmerksamkeit gehört meinem Geschäft", sagt die 40-Jährige. "Doch jetzt ist es viel besser." Das sieht auch Anamaria Maestrocampo, das Ashi-Aushängeschild, so. "Am meisten stolz macht mich aber, dass alles durch meinen eigenen Schweiß entstanden ist", sagt die 47-Jährige.

Ethisch investieren
Das Kreditportfolio von Oikocredit umfasst 522 Euro Millionen Euro. Neben Mikrofinanzinstituten werden auch Genossenschaften sowie kleine und mittlere Unternehmen in Entwicklungsländern mit Darlehen unterstützt. Das dafür notwendige Geld stammt von privaten Investoren in aller Welt, der Großteil kommt aber aus Europa und den USA. Einzelpersonen oder Organisationen müssen mindestens 200 Euro veranlagen, die jährliche Rendite betrug in den vergangenen Jahren zwei Prozent. Das Geld ist jederzeit behebbar. Wer bei Oikocredit veranlagt, muss zudem pro Jahr einen Mitgliedsbeitrag in der Höhe von 20 Euro entrichten. In Österreich ist Oikocredit seit 1990 tätig, das durchschnittliche Veranlagungsvolumen der 3172 heimischen Investoren beträgt 11.600 Euro. Angesichts der Finanzkrise und des niedrigen Zinsniveaus hat Oikocredit in den vergangenen Jahren einen starken Zustrom erlebt.

Die Guten und die Bösen
Als der aus Bangladesch stammende Wirtschaftsprofessor Muhammad Yunus 2006 für seine Mikrokredit-Idee mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, galt das Konzept als einer der Schlüssel zur Armutsbekämpfung. In den vergangenen Jahren gerieten Mikrokredite in einigen Ländern wie Indien und Bangladesch jedoch in Verruf. Neben staatlichen Geldgebern und Nichtregierungsorganisationen waren dort private Unternehmer getreten, die in den Mikrokrediten vor allem ein lukratives Geschäft sahen. Als SKS, der indische Marktführer für Mikrokredite, an die Börse ging, warb er mit einer Rendite von 24 Prozent. Die Profitorientierung blieb jedoch nicht ohne Folgen. Potenzielle Kreditnehmer wurden zu Darlehen gedrängt, bei der Eintreibung wurde mitunter Gewalt angewandt. 2010 brachten sich im indischen Andhra Pradesh 30 Frauen um, weil sie die Raten nicht mehr begleichen konnten.