Viele Betriebsräte sind heute Migranten oder Kinder von Migranten.
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Wien.
"Zehn Formulare für Heizkostenzuschüsse habe ich diesen Jänner ausgefüllt", erzählt Zdravko Spajic. Das stimmt ihn traurig. Dann wieder gehe es um Rezeptgebührenbefreiungen, um Ausgleichszulagen. "Es sind viele Existenzfragen, mit denen die Menschen heute zu mir kommen." Spajic ist muttersprachlicher Berater im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS). Und das ist er schon sehr lange: 1974 hat er als Dolmetscher im ÖGB begonnen. "Damals waren die Leute meistens in Sachen Arbeitsrecht hier, zum Kontrollieren von Abrechnungen, da gab es Fragen zum Steuerrecht. Damals war es keine Frage, dass man Beschäftigung findet. Heute sieht das anders aus."
Der ÖGB bietet derzeit Beratung auf Türkisch, BKS, Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch und Englisch an. Es wird überlegt, auch für bulgarische Arbeitnehmer muttersprachliche Beratungen anzubieten. Am meisten Nachfrage gibt es allerdings nach Türkisch.
Azem Olcay ist in dieser Sprache seit 2008 Berater. Mit welchen Sorgen die Menschen zu ihm kommen? "Wegen prekärer Arbeitsverhältnisse, Problemen am Arbeitsplatz wie Mobbing, nicht wahr- und ernstgenommen zu werden, wegen Gesundheitsproblemen, Niederlassungsfragen, aber auch wegen Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung." Über die Jahre haben sich die Probleme verändert: "Fragen bezüglich Aufenthaltstitel beziehungsweise Niederlassungsbewilligung, Invaliditätspension und Kündigungen häufen sich." Es sind vor allem Zuwanderer der ersten Generation, die hier muttersprachliche Unterstützung suchen. Bei Spajic und Olcay sind das oft jene, die in den 60er und 70er Jahren als Gastarbeiter nach Österreich kamen. Sie sind heute Pensionisten. Vor allem Frauen haben nicht viel Geld zur Verfügung, denn die Pensionen sind klein. "Meist bekommen sie kaum mehr als 800 Euro." Die meisten Gastarbeiter waren eben am Bau, in der Gastronomie, in der Reinigung beschäftigt, sagt Spajic. Da suche man dann auch um Heizkostenzuschuss an. "100 Euro sind viel Geld für manche Leute."
Ursprünglich hatte man gedacht, hier Geld zu verdienen, zu sparen, wieder in die alte Heimat zurückzugehen. Doch man blieb. Die Häuser, "die Paläste" (Spajic), die etwa im ehemaligen Jugoslawien gebaut wurden - sie stehen heute alle leer. "Die Familie stirbt aus, die Eltern leben nicht mehr. Und die Enkel wollen nicht mehr weg von hier. Das Leben spielt sich hier ab - und man bleibt." Die Häuser in der alten Heimat sind heute unverkäuflich. Denn jene, die im ehemaligen Jugoslawien geblieben sind, können sich diese Immobilien schlicht nicht leisten.
Spajic selbst ist einer, der in Österreich geblieben ist. Er war in Bosnien zum Labortechniker ausgebildet worden und hätte gerne an der Uni studiert - doch dazu fehlte das Geld. So kam er nach Österreich. Seine Berufsausbildung wurde nicht anerkannt. "Das Thema Nostrifizierung ist übrigens bis heute ein Problem. So viele Zuwanderer müssen hier in schlechter qualifizierten Berufen arbeiten, weil ihre Zeugnisse nicht anerkannt werden." Spajic arbeitete zunächst bei Semperit als Lagerarbeiter, 1974 folgte der Wechsel zum ÖGB.
Spajic ist so etwas wie ein Urgestein im ÖGB. Heute sind auch aus der Gewerkschaft Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr wegzudenken. "Viele Betriebsräte sind Migranten oder Kinder von Migranten", sagt Spajic. Damit würden viele Probleme schon vor Ort in den Betrieben gelöst. Wie viele der an die 1,2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder Migrationshintergrund haben, weiß man im ÖGB nicht, da dies beim Beitritt nicht abgefragt wird.
Sinkende Nachfrage
Hauptproblem für viele Migranten am Arbeitsmarkt sei deren zu niedrige Qualifizierung, sagt Franz Friehs, im ÖGB für den Bereich Integration am Arbeitsmarkt zuständig. Oder aus anderer Perspektive: Die Nachfrage nach Arbeitskräften mit niedrigem Qualifikationsniveau sinkt. Gleichzeitig gebe es aufgrund der Arbeitsmarktöffnung ein stark gewachsenes Arbeitskräfteangebot. Das verschärfe die Situation zusätzlich.
Was tut nun der ÖGB? "Wir treten für eine umfassende Verbesserung der Qualifikationsstrukturen auf allen Ebenen - Kindergarten, Schule, Erwachsenenbildung - ein, um die sprachlichen und fachlichen Qualifikationsdefizite von Personen mit Migrationshintergrund abzubauen." Auch Friehs weist auf die nötige Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen hin.
Spajic erzählt von einem bosnischen Arzt, der in Wien einen einmonatigen Krankenpflegekurs absolviert hat. Während eines Nachtdienstes brauchte ein Patient dringend eine Spritze. Als kein Mediziner rasch verfügbar, gab ihm der Arzt selbst die Spritze - und wurde daraufhin gekündigt. "Dass Leute nicht in ihren Berufen arbeiten können, demotiviert. Wir kennen ja alle die Geschichten von den Taxifahrern, die eigentlich Ingenieure oder Ärzte sind."
Besonders wichtig sind aus Sicht der Gewerkschaft die Betreuung und Begleitung von gefährdeten Jugendlichen vom letzten Pflichtschuljahr bis zur nachhaltigen Integration am Arbeitsmarkt, aber auch neue Wege zur Ausbildung für Bildungsabbrecher, meint Friehs. Lehrabbrüche müsste man durch individuelle Betreuung verringern. Hier sieht man auch schon Erfolge. Die überbetriebliche Lehrausbildung biete Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Chance. Tatsächlich gehe ihr Anteil bei der überbetrieblichen Lehrausbildung gegen 50 Prozent, betont Friehs. Jene, die besser ausgebildet werden, werden dereinst auch bessere Pensionen beziehen - und nicht damit kämpfen, die Wohnung aus Kostengründen nicht adäquat heizen zu können.