Corona enttarnte die Gewissheit der Stabilität als Trug, so Wissenschafter beim "Digitalen Salon" der TU Wien.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es war die Virologin Dorothee von Laer, die den Finger gleich zu Beginn der via Zoom übertragenen Veranstaltung in die Wunde legte: "Wollen wir wirklich zu der Normalität einer Ich-Gesellschaft zurück, in der diejenigen erfolgreich sind, die ihre Ellbogen auch noch mit Stahlkappen ausstatten?", fragte sie. Die Bilanz der Wissenschafterin nach einem Jahr der Pandemie war düster: Auf einer wissenschaftlichen Ebene könne es zwar sein, dass "wir gewonnen haben", meinte sie. Fluchtmutationen und Virus-Varianten sind in den Griff zu bekommen. Auf die gewachsene soziale Ungleichheit und den fortschreitenden Klimawandel verweisend, fragte von Laer aber: "War nicht eben diese Normalität das Problem?"
Stolz und Erschöpfung
Dieser vierte "Digitale Salon" der TU Wien war geprägt von der Stimmung eines Übergangs. Die Pandemie scheint irgendwie vorbei zu sein und doch, ist sie es wirklich? Der "Digitale Salon" ist eine virtuelle Diskussionsveranstaltung im Rahmen von "TU Vision 25+", ein Format, mit dem sich die Universität als technische Hochschule der Gesellschaft öffnen will, in einem interdisziplinären Dialog.
Moderiert von Walter Hämmerle, dem Chefredakteur der "Wiener Zeitung", diskutierten neben Dorothee von Laer die TU-Wissenschafter Simon Güntner, Soziologe, Norbert Kreuzinger vom Institut für Wassergüte und Ressourcenmanagement und Alfredo Soldati, Physiker, Philipp Thurner, Biomechaniker, sowie der Musiker und Künstler Wolfgang Schlögl.
Das Gefühl, am Beginn von etwa Neuem zu stehen, wurde bereits zu Anfang durch eine einleitende Frage Gerhard Schütz, einer der Initiatoren des Digitalen Salons und Biophysiker, vorgeprägt: "Ist die Corona-Pandemie eine kulturelle Zäsur?", hatte er formuliert.
Ähnlich wie bei der Virologin von Laer schwangen auch in der Reaktion Norbert Kreuzingers zugleich Stolz und Erschöpfung mit. Stolz auf die wissenschaftliche Gemeinschaft, der es in kollektiver Anstrengung gelungen war, das neue Virus zu verstehen, seine Ausbreitung einzudämmen, wahrscheinlich viele Menschenleben gerettet zu haben. Kreuzinger selbst war es gelungen, Virus-RNA im Abwasser Wiens nachzuweisen. Ein Wissenssprung, den er vor etwas mehr als einem Jahr für unmöglich gehalten hätte. "Es war aber so stressig wie noch nie", sagte Kreuzinger. In dem Stress ist die Erschöpfung spürbar und die Ahnung, dass es vielleicht ähnlich weitergehen muss, will man drängende Probleme wie den Klimawandel bewältigen: "Ich hoffe, dass sich das gemeinsame Arbeiten in Zukunft fortsetzt. Es geht nicht um die Leistungen Einzelner, sondern darum, dass wir voneinander lernen."
Soziologe Güntner fasste die Erschöpfung als Ernüchterung zusammen: "Mit gestern ist Schluss", sagte er. Schluss mit der Normalität, wie wir sie kannten, Schluss vor allem mit den im 20. Jahrhundert geformten Gewissheiten, wie etwa jener der Stabilität. Diese erweist sich als Scheingewissheit. "Es war eine trügerische Stabilität." Die "Zentralstellung der Impfung" habe den Nebeneffekt, alle wieder in Sicherheit zu wiegen: "Dann mache ich alles, um wieder nach Mallorca fliegen zu können." Jetzt müsste es kollektiv gelingen, Ambivalenz und Ungewissheit auszuhalten. Diese Enttarnung "sollte eigentlich eine Chance sein", so Philipp Thurner. Seine Erschöpfung speist sich aus der Befürchtung, dass die Problemvariante der Normalität genau die ist, die viele Menschen zurückwollen. Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnis niemals abgeschlossen ist - eine Erfahrung, die in einem Jahr Pandemie auch viele Laien zwangsläufig machen mussten -, bleibt sie doch aus Sicht von Alfredo Soldati die einzige Möglichkeit der Menschheit, mit den Herausforderungen der Zukunft zu leben. Wenn Gebäude so designt werden können, dass sie das Klima schützen, können sie auch so designt werden, dass sie die Übertragung von Erregern hemmen, sagte er. Soldati hatte als Strömungsphysiker zeigen können, wie das Virus in Abhängigkeit von der Größe von Tröpfchen, zum Beispiel von Speichel, übertragen wird.
2020 mag das Jahr der Wissenschaft gewesen sein, doch das ist nicht genug, wie von Laer sagte. Schon Wolfgang Schlögl, als Künstler auf breitem kulturellem Fundament stehend, fühlte sich mitunter "wie in einem ganz argen Werner-Herzog-Film" und fand schwer aus der Existenzangst zu produktiver Muße. "Wir brauchen ein gesellschaftliches Umdenken", sagte von Laer. Dieses Umdenken könne nicht aus Wissenschaft kommen, sondern nur aus der Politik. Umdenken brauche etwas, dass die Wissenschaft nicht mitliefern kann: Emotionen.