Die Ukraine gilt als eines der gläubigsten Länder der Welt. Der pro-russische Flügel der ukrainischen Orthodoxie hat jetzt einen Traditionalisten als neues Oberhaupt gewählt. Die Gräben zwischen den Konfessionen dürften sich weiter vertiefen.
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Kiew. Es ist ein warmer Nachmittag am Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan. Die Kiewer huschen durch das Stadtzentrum, um noch die letzten Besorgungen für das Wochenende zu machen. "Wir müssen uns nicht vor dem Kampf fürchten, denn Gott ist mit uns!", donnert ein Mann mit gelber Stola von der Maidan-Bühne. Die Passanten halten inne. "Ruhm der Ukraine!", schreit der Priester den Schlachtruf der Maidan-Revolution in die Menge. "Ehre sei den Helden!", tönt es von den Passanten zurück. "Ruhm Jesus Christus!", setzt der Priester mit erhobenem Holzkreuz nach.
Die Kirchen haben am Maidan eine herausragende Rolle gespielt: Eine Freiluftpredigt wie diese war lange Zeit fixer Bestandteil des Maidan-Repertoires. Schon von Beginn an haben sich großen Kirchenorganisationen mit den Protesten solidarisiert. Priester mit wallenden Gewändern, dichtem Rauschebart und goldenen Ketten gehören zum Maidan dazu wie die Männer in Tarnanzügen, die Zeltstadt oder die vielen Ukraine- und Europa-Flaggen. Als am Maidan das erste Blut floss, wurden nahe gelegene Klöster und Kirchen zu Lazaretten umgewandelt. Die Bilder von Priestern, Ikonen und brennenden Barrikaden gingen um die Welt.
1992 spaltete sich die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche
Der Schulterschluss zwischen Kirche und Maidan war aber längst nicht überall so geschlossen, wie diese Bilder glauben machen. Die Kirchenlandschaft der Ukraine spiegelt ihre wechselvolle Geschichte wider: Während im Westen des Landes die Griechisch-Katholische Kirche viele Anhänger zählt, gibt es im Osten und Süden des Landes viele Gläubige der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die Moskau untersteht. Von ihr hat sich wiederum im Jahr 1992 ein pro-ukrainischer Flügel, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche mit einem Kiewer Patriarchat, abgespalten. Während die Griechisch-Katholische sowie das Kiewer Patriarchat - wie der eingangs erwähnte Priester am Maidan - die Proteste von Anfang an aktiv unterstützen, schwankte die russisch ausgerichtete Ukrainisch-Orthodoxe Kirche zuletzt zwischen den Fronten.
Anfang Juli ist das Oberhaupt des pro-russischen Flügels, der Metropolit Wolodomyr, gestorben. Am Mittwoch wurde in Kiew sein Nachfolger gewählt. Viele in Kiew stellen sich nun die Frage, wie es jetzt mit der Orthodoxie im größten Flächenstaat Europas weitergeht.
Der neue Mann an der Spitze des pro-russischen Flügels ist der 69-jährige Metropolit Onufri aus der westukrainischen Stadt Czernowitz. Er gilt als konservativ und moskophil - anders als sein Vorgänger Wolodomyr, der den Ausgleich zwischen Kiew und Moskau suchte. Seine Position machte Onufri schnell in einem Interview mit Interfax klar: "Wir wollen eine Wiedervereinigung, aber wir haben unsere Prinzipien. Diese kann nur unter dem orthodoxen Kirchenrecht erfolgen." Soll heißen: Eine Wiedervereinigung kann es nur mit und nicht ohne Moskau geben.
Dementsprechend scharf tönte es als Reaktion aus dem pro-ukrainischen Flügel der Orthodoxie: Mit Onufri sei ein Dialog somit "unmöglich", so die Kirche in einer Presseaussendung. Zuvor sei Onufri gegen die ukrainische Eigenständigkeit der Kirche sowie auch gegen eine Euro-Integration der Ukraine eingetreten. "Das alles zeigt, dass Onufri kein Patriot der Ukraine ist", schoss der Kiewer Patriarch Philaret in einem Interview nach.
Mit der Wahl Onufris hat sich der konservative Flügel durchgesetzt, der keine Annäherung an das Kiewer Patriarchat will, sind sich Beobachter einig. Das könnte die Gräben zwischen den Kirchenzentren in Kiew und Moskau noch weiter vertiefen, so der Journalist Witali Portnikow: "Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche unter Moskauer Patriarchat kann sich heute nur noch retten, indem sie den innerkirchlichen Dialog sowie die Vereinigung sucht und sich entschieden von der Moskauer Kirche distanziert."
Religion ist in der Ukraine eine wichtige gesellschaftliche Größe. Die Ukraine gilt als eines der gläubigsten Länder der Welt. Nach dem Umsturz am Maidan hat der Einfluss der Kirche noch weiter zugenommen: So geben 76 Prozent der Ukrainer an, gläubig zu sein. Vor einem Jahr waren es noch zehn Prozent weniger, so das ukrainische Razumkov-Zentrum in einer aktuellen Umfrage.
Dem gegenüber hat aber vor allem die auf Moskau ausgerichtete Kirche an Ansehen verloren, der unter anderem der ehemalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch angehörte: So gab 2010 noch jeder vierte Ukrainer an, ein Gläubiger der Kirche unter Moskauer Führung zu sein. Heute sind es nur noch 17 Prozent. Bei der orthodoxen Kirche mit Kiewer Patriarchat ist es derweil genau umgekehrt: Zu ihr bekannten sich damals 15 und heute 22 Prozent. Sie hat in der Krise klar Stellung bezogen, Geld für die Armee gesammelt und Russland als den Aggressor bezeichnet.
Kiew ist die Wiege der osteuropäischen Orthodoxie
Im Gegenzug dazu hatte sich die Moskauer-Patriarchats-Kirche bemüht, sich nicht eindeutig auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Am Maidan stand sie auf "beiden Seiten der Barrikaden", wie Thomas Bremer sagt, Professor für Ostkirchenkunde an der Uni Münster. Einzelne Priester hätten zwar die Forderungen des Maidan unterstützt; zugleich gibt es aber auch Berichte von Priestern, die die Spezialeinheiten der gefürchteten Berkut vor dem Kampf mit den Demonstranten noch gesegnet hätten - und vor einem Überlaufen zu den Protestierenden, den "Nazis", mit Verdammnis in der Hölle gewarnt hätten.
Kiew ist die Wiege der osteuropäischen Orthodoxie. So soll der Großfürst Wolodomyr am Kiewer Dnjepr-Ufer im Jahr 988 nach byzantinischem Ritus getauft worden sein. Damit soll das ostslawische Christentum als Staatsreligion begründet worden sein. Alle orthodoxen Kirchenorganisationen der Ukraine sowie Russlands erheben seither Anspruch auf das spirituelle Erbe des mittelalterlichen Großreichs, der sogenannten Kiewer Rus’.
Am Ausgang dieses Erbstreits und des Ukraine-Konflikts insgesamt lässt zumindest Patriarch Philaret, seit der Abspaltung Führer des pro-ukrainischen Flügels, keinen Zweifel. "Wir sind zu 100 Prozent sicher, dass es früher oder später eine orthodoxe Kirche in der Ukraine geben wird, die unabhängig von Moskau ist", sagte Philaret zuletzt.
Philarets Kirche wird aber bisher weltweit von keiner anderen orthodoxen Kirche anerkannt. "Aggression ist schlecht, und Gott ist nie auf der Seite des Bösen. Die Ukraine wird gewinnen, weil Wahrheit und Gott auf unserer Seite sind."