Eindrücke von einer Pilgerwanderung zu einem Ort im niederösterreichischen Wechselgebiet, dessen Name zurzeit für erhöhte Aufmerksamkeit sorgt.
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Bevor mich im Homeoffice der Corona-Blues überwältigte, nahm ich mir ein Beispiel an Hape Kerkeling ("Ich bin dann mal weg!"). Seine Ausbruchsstrategie - "Ich wandere halt mal eben durch Spanien" - ist in Epidemiezeiten keine Option. Mein Plan - "Ich geh mal eben nach St. Corona" - löste in meiner Umgebung aber die gleiche Reaktion aus, mit der Kerkelings Freundin seine Fußwallfahrt kommentierte: "Aha, jetzt bist du durchgeknallt!"
Bin ich nicht, ich musste nur einmal kurz weg, ein wenig raus, für ein paar Stunden die Stadt hinter mir lassen, die Gesichtsmasken, die Desinfektionsmittelspender, die ernsten Radio- und Fernsehnachrichten und die halblustigen WhatsApp-Zusendungen. Den Ort mit dem Namen zu besuchen, den auch das alles in seinen Bann ziehende Virus trägt, reizte mein Faible für schwarzen Humor. Und wenn die Pilgerei zu diesem Gnadenort auch noch mein Gemüt aufzuhellen imstande wäre, umso besser.
Bergauf-Weg
Vor dem Bahnhof Aspang Markt wartete ein Bus nach St. Corona am Wechsel auf mich. Doch halt, die mahnende Stimme in mir sagte: Ein richtiger Wallfahrer geht. Ich überlegte nur kurz und bedeutete dem Chauffeur: "Nein, Danke." Der startete daraufhin mit einem leeren Bus seine Runde. Im Railjet von Wien nach Wiener Neustadt hatte ich einen ganzen Waggon für mich allein, den Regionalexpress teilte ich mir mit einem Schaffner, der mein Handy-Ticket aus drei Metern Entfernung kontrollierte.
Rund zehn Straßenkilometer und knapp 350 Höhenmeter sind es von Aspang nach St. Corona. Ich wählte aber den Wanderweg über den Bergrücken "Außeraigen", der zwar ein wenig länger und mit mehr Auf und Ab gewürzt ist, von dem ich mir aber eine interessantere Streckenführung erwartete und mehr landschaftliche Abwechslung. Der erste Kilometer und die ersten hundert Höhenmeter hinauf durch eine Siedlung auf der Aspanger Sonnseite präsentierten sich jedoch in Bild und Ton einheitlich: Trimmende, kärchernde, kehrende, heimwerkende, aus- und aufräumende Corona-Robinson-Crusoes auf ihren Rasen-, Garagen- und Einfahrten-Inseln, die allein oder mit einem Freitag zusammen ihr bereits wunderschön getrimmt, gekärchert, gekehrt und aufgeräumt ausschauendes Eiland bestellten.
Zwei Pensionisten mit Hunden beim Gassi gehen unterhielten sich von einer Straßenseite zur anderen über die Krise und die dieswöchigen Hofer-Angebote und amüsierten sich über den Gedanken, bald so wie ihre Begleiter nur mehr mit Maulkorb rausgehen zu dürfen.
Oberhalb der Siedlung erreiche ich den Wald und bin mit mir allein. "Der Weg stellt jedem nur eine Frage: Wer bist du?", lautet das Motto von Kerkelings "Ich bin dann mal weg!"-Bestseller. Für diesen existenziellen Zugang war ich noch zu wenig lang unterwegs. Mich beschäftigte noch die Frage: "Wo bin ich?" Die Wegweiser zeigten alle nach Mariazell, aber soweit wollte ich ja gar nicht. "Ober sticht Unter" – wahrscheinlich gilt diese Regel nicht nur beim Kartenspielen, sondern auch bei Wallfahrtsorten, und die steirische "Magna Mater Austriae" übertrumpft nicht nur an nationaler wie internationaler Bekanntheit und kirchlicher Bedeutung, sondern schon bei der Beschilderung Niederösterreichs Heilige Corona. Wieder aus dem Wald draußen, bestätigte ein Bauer, der seinen Sohn vom Feldrand aus beim Eggen mit dem Traktor beaufsichtigte, dieses Wallfahrtsorte-Ranking: "Nach Corona? – "Immer geradeaus, immer weiter hinauf…"
Diesen Bergauf-Weg nach St. Corona muss vor mir auch der unbekannte Autor des Wallfahrtsliedes zu Ehren der Heiligen am Wechsel gegangen sein, beginnt doch der Text der ersten Strophe mit: "Corona hoch erhoben aus diesem Erdental. Zur ew’gen Glorie droben, im hehren Himmelssaal." Sehr treffend. Links schaut mein Blick auf den noch schneebedeckten Wechsel, rechts strahlt – Frühling hin oder her – der winterlich-weiße Schneeberg herüber. "Für Gott hast du gestritten, mit Mut und heil’ger Freud", beschreibt der weitere Liedtext Coronas Weg in die Heiligkeit. Und ihr Martyrium wird besungen mit: "Für Gott hast du gelitten, viel Widerwärtigkeit". Eine sehr verharmlosende Beschreibung ihrer an böser Intelligenz und gefinkelter Brutalität nur schwer zu überbietenden Hinrichtungsart.
Todesspektakel
Laut Heiligenlexikon soll sie im Jahr 161 oder 287 irgendwo im heutigen Nahen Osten geboren sein. Im Alter von 16 Jahren habe sie dem wegen seines christlichen Glaubens verfolgten Soldaten Victor beigestanden, der entweder ihr Mann oder ein Kamerad ihres Mannes war. Wegen dieser Beihilfe zum damals noch falschen Glauben wurde auch sie unter den römischen Kaisern Antoninus Pius oder Diokletian zum Tod verurteilt und in Damaskus oder in Antiochia in der heutigen Türkei, oder im ägyptischen Alexandrien oder auf Sizilien oder in Marseille hingerichtet. So viele Ungewissheiten das Leben Coronas umranken, so einheitlich beschreiben alle Überlieferungen die Weise ihres Todes. Auf dem Hochaltarbild der Wallfahrtskirche St. Corona werde ich die Szene dargestellt finden.
Hoch oben, unter der Decke des Kirchenraums, damit die betende Gemeinde diesen Gewaltausbruch nicht zu nah vor Augen hat, ist die Hinrichtung detailliert dargestellt: Viel sich am Todesspektakel aufgeilendes Volk im Vordergrund, im Zentrum des Bildes zwei mit Seilen gebeugte Palmen und an ihnen festgebunden eine nackte Frau. Weiß hat der Künstler ihre Haut gemalt, um die Todgeweihte abzuheben von den kräftigen Lebensfarben der Palmen, der Gaffer und vom spritzenden Blut in ihrer Leibesmitte, die von den losgebundenen und emporschnellenden Bäumen gerade zerrissen wird. Eine Krone soll laut den Heiligenlegenden nach dieser Schandtat vom Himmel gefallen sein. Göttliche Bestätigung für die Heiligmäßigkeit des Opfers und Namensgeber für "Corona", lateinisch "die Gekrönte".
So grausam ihr Tod war, so triumphal sind ihre Verehrungstraditionen in der griechischen, äthiopischen und lateinischen Kirche. Reliquien von ihr und Victor wurden seit dem 6. Jahrhundert in mehreren italienischen Städten und später auch nördlich der Alpen beispielsweise in Aachen und Prag verehrt. Auch in Wien hat die Heilige eine lange Verehrungsgeschichte. Dass die österreichische Münzeinheit bis 1924, nach Corona benannt, "Krone" hieß, "ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass Corona nicht nur Schutzpatronin gegen Seuchen ist, sondern auch in Geldangelegenheiten, bei der Schatzsuche und sogar in der Lotterie um Hilfe angerufen wird", schreibt die Katholische Presseagentur.
Auch als Patronin der Fleischhauer und der Holzarbeiter wird sie verehrt. Das mag mit ein Grund sein, dass ihre Heiligtümer in Wald-Gemeinden wie St. Corona am Schöpfl im Wienerwald oder eben St. Corona am Wechsel zu finden sind. 1504 sollen zwei Holzfäller in dieser Gegend in einer hohlen Linde eine Corona-Statue gefunden haben. Daraufhin wurde eine Kapelle errichtet, später eine Wallfahrtskirche. Zwei Ölbilder an den Seitenwänden der Kreuzkapelle in der Kirche in St. Corona zeigen diese Gründungslegende.
Aber noch war ich nicht am Ziel meiner Wallfahrt. Nach einer guten Stunde Gehzeit erreichte ich den Berggasthof Reithofer. Erst die Hälfte der Strecke war geschafft, 748 Meter zeigte mir meine Wanderkarte, noch 100 Höhenmeter fehlten bis "Corona hoch erhoben aus diesem Erdental". Der Gastbetrieb war vorschriftsmäßig geschlossen, ich werde ein Stück weiter neben einer Waldkapelle rasten und jausnen.
Doch Stärkung und Labsal für’s Gemüt bekam ich bei diesem Bergwirten trotzdem geboten: Zwei Zimmerer schnitten und hämmerten am Holzboden einer neuen Gastgarten-Terrasse. Was für ein Hoffnungszeichen! Wenn die Corona-Sperren vorbei sind, werde ich wiederkommen und einkehren und auf die beiden und ihren schönen Schankboden anstoßen, versprach ich den beiden Arbeitern. Sie quittierten es mit Daumen hoch, und ich schaffte damit den Aufstieg zu einem richtigen Wallfahrer mit einem echten Gelübde.
Ähnlich, nur mit einer etwas anderen Akzentsetzung, hatte auch ein Pfarrer in Oberbayern dieser Tage einen jährlichen Bittgang zur heiligen Corona versprochen, "wenn alles überstanden ist". Nicht ins niederösterreichische Wechselgebiet möchte der fromme Mann mit betendem Anhang pilgern, sondern in einen Wald bei Sauerlach südlich von München, wo eine seit mehr als 350 Jahren der Heiligen geweihte kleine Kapelle steht. Ihr Namenstag ist am 14. Mai. Zu diesem Termin sollte – so die Virusgefahr gebannt – der Bittgang stattfinden. Im Kathpress-Bericht darüber wurde auch der Sauerlacher Ortschronist zitiert, der meinte, es kommen jetzt Menschen "von überall zur heiligen Corona". Statt normalerweise einer Kerze seien jetzt viele in der Kapelle angezündet.
Seliges Bayern. In Corona am Wechsel empfingen mich lediglich zwei schon fast ausgebrannte Kerzenbecherl. Dafür läuteten die Mittagsglocken zu meiner Ankunft. Der Ort schien ausgestorben. Wahrscheinlich saßen alle beim Mittagstisch. Daheim, denn die Gasthäuser sind natürlich alle zu.
Gediegenes Ambiente
Die Kirche ist ein schlichter Barockbau in Schönbrunnergelb mit rotem Schieferplattendach und für den massiven Bau zu klein geratenem Glockenturm. Dafür hat die St. Corona-Kirchengemeinde beim Hochaltar geklotzt – natürlich noch lange kein Mariazell, kein "Magna", aber ein sehr gediegenes, würdevolles Andachtsambiente für die Heilige Corona.
An die Kirchenraumdecke ist sie ebenfalls gemalt. Neben ihr steht Victor, geizt nicht mit dem Reiz der Uniform, fescher römischer Legionär, und schaut ernst. Sie, in viel weißen und Marien-blauen Stoff gekleidet, dreht die Augen nach oben, wo zwei Engerl mit je einer Krone für das Märtyrer-Paar daherfliegen. Im Chorbogen steht die Aufschrift geschrieben: "Heilige Corona erbitte uns Standhaftigkeit im Glauben." Ein mit Hand beschriebener auf die Ankündigungstafel neben der Eingangstür gepinnter Zettel aktualisierte diese Bitte: "Wir vertrauen dir! Hl. Corona bitte für uns! Für diese Gemeinde, für unser Land, für die ganze Welt. Stelle uns unter deinen Schutz und sei unsere Fürsprecherin!" Ich zündete eine Kerze an.
Bald wird der Bus nach Bahnhof Aspang Markt kommen. Dieses Mal werde ich ihn nicht vorbeiwinken. So ein Wallfahrer wie ich durfte auch einmal fahren. Ich war ja nicht Hape Kerkeling. In einem Interview mit der "Zeit" wurde der nach seiner Bin-weg-Wallfahrt gefragt: "Der Weg nach Santiago gilt als Erleuchtungsweg. Sind Sie jetzt erleuchtet?" Er antwortete: "Wie, finden Sie, sehe ich aus? Nein, erhellt bin ich vielleicht. Die eigentliche Essenz, die ich aus dem Weg gezogen habe, ist sehr banal, aber dafür bin ich sehr weit gelaufen: dass man in jeder Sekunde seines Lebens komplett neu von vorne anfangen kann."
Das ist eine tolle Essenz, für das Corona-Jetzt und das hoffentlich baldige Corona-Danach. Dafür ist Kerkeling nicht umsonst sehr weit zu Fuß gegangen. Um eine Idee davon zu bekommen, genügte es aber auch, quasi ums Eck einmal nach St. Corona zu wandern.
Wolfgang Machreich ist freier Autor und Journalist. Zuletzt
erschienen: "360° um die Welt - Alle Länder von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang".