Zum Tod des Historikers und Soziologen Moishe Postone, der mit seinen kritischen Theorien viel zum Verständnis der jüngeren Vergangenheit beitrug.
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Mit Moishe Postone ist am 19. März im Alter von 75 Jahren in Chicago einer der wichtigsten, in der Tradition von Karl Marx und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stehenden Wissenschafter verstorben, der immensen Einfluss insbesondere auf die deutschsprachige Linke hatte.
Ende der 1980er Jahre kursierte Postones Text "Nationalsozialismus und Antisemitismus" als Geheimtipp in jenen Zirkeln, die in Deutschland gerade versuchten, ihren eigenen Marxismus mittels einer Relektüre von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, der Auseinandersetzung mit der klassischen Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus neu zu justieren.
Der ursprünglich für eine US-amerikanische Publikation geschriebene Beitrag löste nach seinen deutschen Erstveröffentlichungen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre (unter anderem in dem von Dan Diner herausgegebenen Band "Zivilisationsbruch") zunächst keine großen Diskussionen aus. Seit Beginn der 1990er Jahre, nachdem der Freiburger ça ira-Verlag Postones Schriften wieder- und zum Teil erstveröffentlicht hat, ist er aber zur Pflichtlektüre eines jeden an materialistischer Gesellschaftskritik Interessierten geworden. Die Herausgeber von Postones 2005 erschienener Aufsatzsammlung "Deutschland, die Linke und der Holocaust" konstatieren völlig zu Recht: "Postones Texte beeinflussten bei einem relevanten Teil der radikalen Linken die Aneignung einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die den selbstkritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zum Ausgangspunkt nimmt."
Kritik an derdeutschen Linken
Sein Verleger Joachim Bruhn hat Postones Thesen zum Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Jahrzehnte vorherrschenden marxistisch-leninistischen Antisemitismusverharmlosung zu Recht als "Revolutionierung der mate-rialistischen Betrachtung des Antisemitismus" bezeichnet. Seine von Marx’ Grundkategorien im "Kapital" ausgehende Dechiffrierung des modernen Antisemitismus als Hass auf das Abstrakte, seine deutliche Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus und seine Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis als Bruch mit der kapitalistischen Verwertungslogik und Herrschaftsrationalität haben ebenso Maßstäbe gesetzt wie seine Kritik an der deutschen Linken und einem sich progressiv wähnenden ressentimenthaften Antikapitalismus.
Die "neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt" zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als "fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus". Seine Antisemitismuskritik hat eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer linken Solidarität mit Israel gespielt, die den Zionismus als jene prekäre Notwehrmaßnahme gegen die antisemitische Raserei versteht, die er in allererster Linie ist.
Postones eigenes Verhältnis zu den diversen Ausprägungen des Zionismus blieb ambivalent. Zur kommunistischen Tradition des Antizionismus aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus, in der seine eigenen antizionistischen Positionierungen der 1970er Jahre stehen, äußerte er sich später kritisch. 2010 erklärte er zwar, diese "Spielart des Antizionismus" sei "nicht notwendigerweise antisemitisch", kritisierte aber, dass sie von einem "abstrakten Universalismus" geprägt sei, der die spezifische jüdische Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung zum Verschwinden bringt.
Große Teile der Familie wurden Shoah-Opfer
In der Rezeption von Postones Antisemitismus-Thesen machte sich mitunter eine Tendenz zur theoretisierend-rationalisierenden Abwehr von Geschichte bemerkbar, die ihm selbst allerdings kaum vorzuwerfen ist. Bei Postone bildeten die jüdische Erfahrung von Gewalt und Vernichtung und das Entsetzen angesichts des Antisemitismus in der deutschen Linken den Ausgangspunkt der kritischen Anstrengung.
Sein Vater, ein Rabbiner aus Litauen, konnte im August 1939, nur eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, nach Kanada ausreisen. Dort lernte er seine in der Sowjetunion in der Zeit des stalinistischen Terrors aufgewachsene Frau kennen - und 1942 wurde Moishe Postone geboren. Die gesamte Familie des Vaters und große Teile der mütterlichen Verwandtschaft wurden in der Shoah ermordet.
Postone ging in die jüdische Grundschule in Edmonton im nordwestlichen Kanada, anschließend auf jüdische High Schools zunächst in Los Angeles und dann in Chicago. An der University of Chicago studierte er anfangs Biochemie, doch schon bald Intellectuel History, unter anderem bei Hannah Arendt, die laut Postone damals die einzige Lehrende an der Universität war, die sich in ihren Seminaren mit Marx und Hegel beschäftigte.
Postone lernte in München Deutsch, bevor er Anfang 1970 an die Universität in Frankfurt kam, wo er bei Iring Fetscher promovierte und sich intensiv an den Diskussionen der Neuen Linken beteiligte. In New York hat er in den 1970ern am Brooklyn College und am Richmond College unterrichtet. Seit 1987 lehrte er europäische Intellectual History und kritische Sozialtheorie an der University of Chicago, zuletzt als Professor am Department of History.
Bereits 1985 hatte Postone anlässlich des Besuchs von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch ehemalige Angehörige der Waffen-SS lagen, einen offenen Brief an die westdeutsche Linke geschrieben, der bei großen Teilen dieser Linken bis heute nicht angekommen zu sein scheint. Den proamerikanischen Atlantizismus der damaligen deutschen Konservativen charakterisierte er als eine bequeme Form, die BRD als normale Demokratie erscheinen zu lassen, ohne sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen.
Den Antiimperialismus der Linken dechiffrierte er angesichts dessen, dass "Hunderttausende bereit sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu demons-trieren, und nur ein paar Hundert gegen die Rehabilitation der Nazi-Vergangenheit", als plumpen Antiamerikanismus und alternative Form der Schuldabwehr. Der Brief wurde Anfang der 1990er Jahre in linken Publikationen wiederveröffentlicht - und er ist bis heute eine der lesenswertesten Kritiken der postnazistischen deutschen Gesellschaft und ihrer Linken.
Gegen denTraditionsmarxismus
Postones Marx-Buch "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft" erschien 1993, basierend auf seiner Frankfurter Dissertation von 1983, bei Cambridge University Press und wurde mit dem renommierten Preis der American Sociological Association ausgezeichnet. Zehn Jahre später ist es in deutscher Übersetzung erschienen. Seine Studie ist ein Einspruch gegen einen Marxismus, der stets nur Verteilungsprobleme sieht und in der Regel meint, sie durch alternative Steuerpolitik lösen zu können. Postone wendete sich gegen den Traditionsmarxismus mit seiner überhistorischen Vorstellung vom Proletariat als Subjekt der allgemeinen Emanzipation.
An die Stelle der traditionsmarxistischen Vorstellung eines Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit setzte Postone ganz im Sinne der Kritischen Theorie die Diskrepanz zwischen Bestehendem und Möglichem. Den zentralen Antagonismus des Kapitalismus ortete er, inspiriert von einem zentralen Gedanken in Marx’ "Grundrissen", in der Tatsache, dass die unglaubliche Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus Arbeit tendenziell abschafft, die wertförmige Arbeit aber weiterhin ein bestimmendes Prinzip der Gesellschaft bleibt - und dadurch zu Massenelend führt.
Gegen Ende seines Lebens hielt Postone beim Wiener Humanities Festival (im Herbst 2017) nochmals fest, dass das meiste, was unter dem Titel "Marxismus" fungierte, viel eher ein "Engelsismus" war, und Engels in vielen Punkten "wirklich nicht verstanden hat, worum es bei Marx geht". Im Gespräch mit dem ORF-Korrespondenten Raimund Löw erklärte Postone, dass "Marx keine Kritik der Gesellschaft vom ‚Standpunkt der Arbeit‘, sondern eine Kritik der Arbeit" formuliert hat: "Es ging ihm um die Abschaffung der proletarischen Arbeit, nicht um ihre Verwirklichung oder ihre Glorifizierung."
Bei aller Kritik an der Bewegungslinken betonte Postone jedoch stets die Notwendigkeit der Kritik an der ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Seine scharfe Kritik eines fetischistischen Antikapitalismus schlug nie um in Verachtung für die materiellen Bedürfnisse der abhängigen und der abgehängten Massen, und er hielt fest: "Man kann nicht verlangen, dass, wer protestiert, alle drei Bände des ‚Kapitals‘ gelesen haben muss."
Einer der höflichsten Gesellschaftskritiker
In den letzten Jahren äußerste Postone sich immer wieder auch zu Fragen der internationalen Politik: Obamas Syrien- und Irak-Politik hielt er für einen "Fehler" und die vom US-Präsidenten "erhoffte große Veränderung, insbesondere mit dem Iran-Deal" sei "Ausdruck von Naivität".
Er kritisierte das Ausblenden der antisemitischen Motive bei den islamistischen Angriffen der letzten Jahre in Europa, wandte sich entschieden gegen das Gerede von der "Islamophobie" als neuem Antisemitismus und echauffierte sich über die US-amerikanische Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler: "Einige renommierte Akademiker in den Vereinigten Staaten haben kein Problem damit, die Hisbollah und die Hamas zur globalen Linken zu zählen. Das ist wahnsinnig."
Postone wollte mit seiner Kritik in aller Regel einen Gegenstand treffen, nicht seine Diskussionsgegner vernichten. Auf Einwände und Angriffe, die es reichlich gab, reagierte er in aller Regel nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit einer insistierenden Freundlichkeit, die Schule machen sollte: Postone war einer der höflichsten Gesellschaftskritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
In den letzten Jahren verbrachte Postone viel Zeit in Deutschland und Österreich. In Berlin forschte er an der Amerikanischen Akademie, in Wien war er Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM), und er hatte noch einiges vor: Er wollte eine Leseanleitung zum "Kapital" veröffentlichen, und im Anschluss an "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft" wollte er die Kritische Theorie "von ihrem Kapitalbegriff und ihrer Kapitalismuskritik aus darstellen" und sich dabei sehr viel stärker als bisher auf Adorno beziehen.
Am 20. März wurde Moishe Postone am Oak Woods Cemetery in Chicago beigesetzt.
Stephan Grigat ist Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum an der Universität Potsdam, Research & Teaching Fellow am Center for German Studies der Hebrew University in Jerusalem und Research Fellow am Herzl Institute for the Study of Zionism and History der University of Haifa.