Vor 50 Jahren gelang es der Sowjetunion, ihren Vorsprung in der Raumfahrt auszubauen. Es begann die spektakuläre, aber kurze Ära der bemannten "Woschod"-Raumschiffe.
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Beim überaus hektischen Aufbruch ins All ist der UdSSR Sensation um Sensation gelungen. Doch 1964 kehrt scheinbar Ruhe in der bemannten Raumfahrt ein - hüben wie drüben. In den drei Jahren zuvor sind insgesamt zwölf Menschen ins All gestartet, mit sechs sowjetischen Wostoks und mit ebenso vielen US-amerikanischen Mercury-Kapseln. Doch die Zeit der Einsitzer ist nun vorbei: Im Osten zeichnet man das dreisitzige Sojus-Schiff aufs Reißbrett; es soll die Kosmonauten zum Mond bringen. Die NASA entwirft dafür die Apollo. Zuvor möchten die US-Amerikaner das Manövrieren und Andocken im Orbit üben sowie Langzeitflüge ausprobieren. Die dafür entwickelte, zweisitzige Gemini wird aber erst im kommenden Jahr einsatzfähig sein. 1964 hebt kein einziger Amerikaner ab.
Der neue Zweisitzer
In der Sowjetunion erwartet man die Fertigstellung der Sojus zunächst ebenfalls für das Jahr 1965. Chefkonstrukteur Sergei Koroljow will die Lücke bis dahin füllen und weitere Premieren setzen. Regierungschef Nikita Chruschtschow ermuntert ihn dazu: Wenigstens in der Raumfahrt ist man dem Westen voraus. Daher wird die alte, einsitzige Wostok (russ., "Osten") modifiziert und zum Zweisitzer umgebaut. Unter dem neuen Namen Woschod ("Sonnenaufgang") soll sie bis zu neun bemannte Missionen ermöglichen und eine Art Brücke zur künftigen Sojus schlagen.
Um Platz in der nur 2,3 Meter weiten Stahlkugel zu schaffen, entfernt Koroljow zunächst den vertrauten Schleudersitz. Er hatte die Wostok-Piloten kurz vor der äußerst harten Landung aus dem Gefährt katapultiert und sie an separaten Fallschirmen zu Boden sinken lassen. Die neuen Sitze sind fest verankert. Das Lebenserhaltungssystem muss leistungsfähiger werden: Es versorgt die Insassen mit Atemluft und Wasser, regelt aber auch die Kabinentemperatur. Koroljow schreibt einen inoffiziellen Wettbewerb unter seinen Konstrukteuren aus: Als Preis winkt ein Flug ins All.
Weil die Woschod zwar nicht größer, aber deutlich schwerer als die originale Wostok ist, braucht man auch eine stärkere Variante der Trägerrakete. Man testet die neue Konfiguration im Oktober 1964, und zwar ohne Besatzung. Der verschleiernde Name "Kosmos 47" lässt bloß an einen Forschungssatelliten denken. Schon eine knappe Woche später zwängen sich Kosmonauten in die Woschod-1. Es sind aber nicht zwei, sondern gleich drei. Damit eilt man der NASA vier Jahre voraus. Das ist der Zweck der Übung.
Als Kommandant des himmlischen Trios fungiert der 37-jährige Moskauer Jagd- und Testflieger Wladimir Komarow. Der Bordarzt Boris Jegorow soll die rätselhafte, oft auftretende "Weltraumkrankheit" untersuchen. Dass ausgerechnet er zum Einsatz kommt, hat mit den Beziehungen seines Vaters zu Mitgliedern des Politbüros zu tun. Den internen Konstrukteursbewerb hat der Ingenieur Konstantin Feoktistow für sich entschieden. Somit reisen nach Walentina Tereschkowa wieder Zivilisten ins All - zum Ärger der Luftstreitkräfte.
Technische Mängel
Die Crew bricht am 12. Oktober 1964 auf, zum ersten Mal ohne Druckanzüge. Dem Westen soll so die Verlässlichkeit sowjetischer Weltraumtechnik vorgegaukelt werden. In Wirklichkeit bleibt dafür angesichts der Überbelegung aber schlicht kein Platz mehr. An Bord der Woschod sind andere Kostbarkeiten: Ein Porträt von Karl Marx aus dem Besitz von Lenin, ein Foto Lenins mit der Parteizeitung "Prawda" ("Wahrheit") in Händen sowie ein Banner der Pariser Kommune.
Kaum im Orbit angelangt, beginnt Jegorow mit den medizinischen Untersuchungen. Feoktistow testet ein neues System zur Lageregelung des Schiffs. Nach nur einem Tag wird schon das Bremstriebwerk gezündet; die Woschod taucht in die Erdatmosphäre ein. Trotz ihres Fallschirms würde sie mit etwa 27 km/h am Boden aufschlagen. Deshalb muss die in den Fallschirmleinen montierte Feststoffrakete das Gefährt im allerletzten Augenblick "hochreißen". Herabbaumelnde Sonden lösen das Manöver bei ihrem Bodenkontakt aus; ein riskantes Novum. Doch "Rubin 1" - so Komarows Funkzeichen - schweigt. Niemand weiß, ob die Mannschaft noch lebt. Endlich sieht ein Flugzeugpilot die Kapsel und drei winkende Männer daneben.
Für sowjetische Nachrichtenagenturen ist dieser Flug ein "Prototyp wissenschaftlicher Expeditionen der Zukunft". Er habe neue Maßstäbe gesetzt, auch weil die Kosmonauten erstmals keine Schutzanzüge trugen. Doch die Drei-Mann-Mission bleibt ein Strohfeuer. Die kommenden Woschods werden nur noch für Duos adaptiert. Dafür ist, als neuerliche Premiere, der Ausstieg eines Menschen ins freie All geplant.
Der erste Aussteiger
Hierbei darf man nicht einfach die Luke der Kapsel öffnen - denn nach dem Ausströmen der Luft bliebe die Bordelektronik ohne jede Kühlung zurück. Also wird eine beim Start zusammengefaltete Luftschleuse angebaut. Wieder testet man das veränderte Gefährt unbemannt, diesmal unter dem Namen "Kosmos 57". Dieser Satellit untersuche die obere Atmosphäre, heißt es offiziell.
Tatsächlich entfaltet sich die Schleuse im Orbit programmgemäß und ragt nun übermannshoch ins All hinaus. Vor dem Wiedereintritt muss man sie aber wieder loswerden, da eine asymmetrische Kapsel in der Atmosphäre allzu schnell rotieren könnte; der Fallschirm würde sich nicht richtig öffnen. Zwei Bodenstationen senden den Funkcode fürs Absprengen der Schleuse leider gleichzeitig: Das unbeabsichtigte Doppelsignal wird von der Woschod-Bordautomatik als Befehl zum vorzeitigen Zünden des Bremstriebwerks interpretiert. Damit die unbemannte Kapsel nicht auf dem Territorium neugieriger Feinde landet, aktiviert sich der Selbstzerstörungsmechanismus und sprengt sie noch im All in Hunderte von Stücken.
Von den 45 möglichen Funkkommandos könnten vier zu derartigen Fehlern führen, stellt die Untersuchungskommission fest. Das gibt zu denken, zumal entscheidende Flugmanöver per Fernsteuerung vom Boden aus eingeleitet werden - und nicht etwa von Kosmonautenhand.
Für einen weiteren Test steht keine Kapsel zur Verfügung. Am Morgen des 18. März 1965 steigen zwei Männer in die einzige gerade fertige Woschod ein: Alexei Leonow wollte eigentlich Künstler werden, entschied sich dann jedoch für die Luftwaffe. Er hat Buntstifte und einen Zeichenblock dabei. Sein Freund, der Kampfpilot Pawel Beljajew, kommandierte einst eine Jagdstaffel; nun führt er das Kommando über die Woschod-2.
In Höhen bis zu 475 Kilometer rasen die beiden Männer gen Osten. Rasch wird die Luftschleuse mit Sauerstoff geflutet. Sie ist nun 2,5 Meter lang und 1,2 Meter breit. Leonow schlüpft hinein. Sein Kamerad verschließt die Bordluke hinter ihm. Nachdem man das Gas aus der Schleuse gelassen hat, öffnet sich deren Außenluke. Leonow drückt sich ins All hinaus. Der "Klimatornister" am Rücken versorgt seinen Druckanzug mit Sauerstoff. Das Gas kühlt auch seinen Körper, führt Feuchtigkeit und Kohlendioxid ab.
Koroljow hatte den Kosmonauten angewiesen, einfach nur aus- und dann wieder einzusteigen. Doch der Blick auf die tiefblaue Erde überwältigt Leonow. Sie liegt vor ihm da wie eine riesige Landkarte. Er fühlt sich winzig wie eine Ameise und gleichzeitig doch enorm mächtig. Das Schiff glänzt vor ihm golden im Sonnenlicht. Als er sich davon abstößt, schlägt er unfreiwillig Purzelbäume. Ein fünf Meter langer Kabelstrang verhindert, dass er verloren geht. Sein Ausstieg wird in Fernsehen und Radio übertragen, sicherheitshalber aber mit ein paar Minuten Verzögerung. Leonid Breschnew gratuliert über Funk.
Als Beljajew wieder zum Einstieg mahnt, fühlt sich Alexei in Kindertage zurückversetzt - als ihn die Mutter just während des Spielens ins Haus zurück rief.
Der "Weltraumspaziergang" endet allerdings mit einem Überlebenskampf über Ostsibirien. Leonows Schutzkleidung basiert auf jenem Druckanzug, den die Wostok-Piloten innerhalb der Schiffskabine trugen. Offiziell bläht er sich im Vakuum nur wenig auf und behindert den Kosmonauten kaum. Tatsächlich ist er aber zum "Ballon" geworden. Füße und Hände des Kosmonauten rutschen aus den Stiefeln und den Handschuhen, die Anzugsgelenke sind steif. Jede Bewegung gerät ihm zur übermenschlichen Anstrengung. Hitzewellen schießen durch seinen Körper, Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, sein Herz rast.
Die TV-Übertragung ist längst beendet, als Leonow vergeblich versucht, ins Schiff zurückzukehren. Schließlich öffnet er das Ventil seines Schutzanzugs, lässt Druck ab. Nur diese höchst riskante Aktion rettet ihm das Leben. Wieder an Bord hält der völlig erschöpfte Leonow die Eindrücke des zwölfminütigen Ausstiegs in Worten und Zeichnungen fest.
Beim Absprengen der Luftschleuse beginnt die Kapsel zu rollen. Sonne und Erde jagen ums Schiff, dreimal pro Minute. Beljajew könnte das irritierende Ringelspiel stoppen; doch er will den knappen Treibstoff des Lageregelungssystems lieber für den Wiedereintritt aufsparen. Außerdem schließt die Luke offenbar nicht mehr richtig. Um den Kabinendruck zu stabilisieren, schickt das Lebenserhaltungssystem vermehrt Sauerstoff in die Kapsel. Die Brandgefahr steigt dramatisch. Im sowjetischen Radio erklingt Mozarts Requiem, ohne jeden Kommentar.
Landung in der Wildnis
Jetzt sollte sich das Schiff automatisch ausrichten, damit das Bremstriebwerk losfeuern kann. Doch nichts geschieht. Also geht es nochmals um den ganzen Globus, 90 Minuten lang. Dann peilt Beljajew den Erdhorizont mit der Visiereinrichtung am Fenster an, dreht die Kapsel per Handsteuerung in die korrekte Lage. Vor dem manuellen Zünden des Triebwerks müssen die beiden Männer ihre Plätze einnehmen, damit auch der Schwerpunkt stimmt. Das dauert länger als gedacht. Sie schießen rund 400 Kilometer übers Ziel hinaus. Die Bodenkontrolle erfährt das nicht.
Die angeschlossene Versorgungseinheit wird plangemäß von der Kapsel abgesprengt, doch eine einzelne Kabelverbindung widersetzt sich: Nun schleppt die Woschod den gefährlichen Ballast beim Ritt durch die Lufthülle hinter sich her. Sie wird arg herumgewirbelt. Äderchen in Leonows Augen platzen. Erst 100 Kilometer über Grund schmilzt das Kabel durch. Die Männer gehen im Ural nieder, in zwei Meter tiefem Schnee. Als sie die Luke wegsprengen, umfängt sie Eiseskälte. Der Blick fällt auf ein endloses Meer aus Tannen und Birken.
Ein Transportflugzeug fängt Morsesignale der Gestrandeten auf. Die groß angelegte Suchaktion beginnt. Ein Hubschrauber wirft trockene Kleidung und Vorräte ab, doch vieles bleibt in den Wipfeln hängen. Eine andere Maschine lässt die Motoren aufheulen, um ein nahes Wolfsrudel zu vertreiben. An eine Landung darf des dichten Waldes wegen aber kein Pilot denken. Die Raumfahrer harren die Nacht über in der geöffneten Kapsel aus - bei minus 30 Grad C. Am nächsten Morgen trifft ein erstes Rettungsteam bei ihnen ein. Ein anderes schlägert neun Kilometer entfernt Bäume, schafft eine weite Lichtung für den Helikopter. Den erreichen die Kosmonauten schließlich auf Skiern, allerdings erst nach einer weiteren Nacht in der Taiga.
Nur Eingeweihte wissen, wie knapp man einer Katastrophe entgangen ist. Offiziell hat der 26-stündige Flug wie am Schnürchen geklappt. Die "meisterhafte Rückführung per Handsteuerung" wird sogar als Besonderheit gepriesen. Breschnew empfängt das Duo im Kreml, die Menschen am Roten Platz jubeln. Leonow ist nun ähnlich populär wie Juri Gagarin und Walentina Tereschkowa.
Weitere Woschod-Flüge sind geplant. Dabei will man die medizinischen Auswirkungen einer wochenlang andauernden Schwerelosigkeit prüfen und verschiedenste Experimente durchführen. Doch Leonows Ausstieg bleibt der letzte Triumph Moskaus im Wettlauf zum Mond. Schon im Juni 1965 verlässt der NASA-Astronaut Edward White die Gemini-4 und absolviert einen noch etwas längeren Außenbordeinsatz. Die Gemini-5 bleibt acht Tage im Orbit und überflügelt so erstmals den fünftägigen sowjetischen Flugrekord. Koroljow will das alles mit einer fast drei Wochen währenden Woschod-3-Mission toppen. Dazu muss das Lebenserhaltungssystem neuerlich erweitert werden; das dauert.
Die Woschod weist den alten Makel der Wostok auf: Sie ist manövrierunfähig, kann nicht von einem Orbit in den anderen wechseln. Die Gemini schon. Auch deshalb überträgt man die gesteckten Missionsziele nun lieber von der Woschod auf das flexible Sojus-Schiff. Im Oktober 1966 verschwindet die Woschod endgültig aus allen weiteren Überlegungen - nach nur zwei bemannten Einsätzen. Weil die Sojus mittlerweile schon drei Jahre im Verzug ist, bleiben sowjetische Kosmonauten nach Leonows Flug 25 Monate lang an den Boden gefesselt. Während dieser Zwangspause übernehmen die USA ganz klar die Führung.
Das erste Todesopfer
Am 23. April 1967 pilotiert Wladimir Komarow, der einstige Kommandant der Woschod-1, endlich den Jungfernflug der Sojus. Die pannenreiche Mission endet mit dem Versagen des Fallschirmsystems. Die Kapsel schlägt fast ungebremst nahe Orenburg auf. Komarow ist der erste Mensch, der während einer Weltraummission zu Tode kommt.
Pawel Beljajew, der Kommandant der Woschod-2, stirbt im Alter von 44 Jahren nach Komplikationen bei einer Magen-OP. Bordarzt Boris Jegorow übernimmt später die Leitung eines biomedizinischen Instituts. Der Ingenieur Konstantin Feoktistow plant an den Weltraumstationen Saljut und MIR mit. Er hält sich lange vergeblich für einen zweiten Flug bereit.
Alexei Leonow soll 1969 zum Mond fliegen, doch diese Mission findet nie statt. Sechs Jahre später schafft er es dennoch ein zweites Mal ins All: Im Rahmen des Apollo-Sojus-Testprojekts schüttelt er drei US-Amerikanern in der Umlaufbahn die Hand. Leonow ist heute der einzige noch lebende Kosmonaut des Woschod-Programms.
Christian Pinter lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 für die Wiener Zeitung. Internet: www.himmelszelt.at