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Die USA rufen mit ihrem Abwehrprojekt gegen Interkontinentalraketen aus "Risikostaaten" Bedrohungen erst hervor, gegen die sie sich eigentlich schützen wollten. Eine davon ist China.
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Dass die Verhältnisse der Staaten untereinander nicht nur von ideologischen, kulturellen oder institutionellen Gegnerschaften oder Gemeinsamkeiten, sondern auch von Eigeninteressen bestimmt werden, schien nach dem Ende des Kalten Krieges zeitweilig vergessen zu sein. Umso ernüchternder musste es deshalb wirken, als der neue US-Präsident George W. Bush, erklärter Anhänger einer "realistischen", dem "nationalen Interesse" verpflichteten Außenpolitik, den Beschluss verkündete, das von Amtsvorgänger Bill Clinton hinausgeschobene Nationale Raketenabwehrsystem (NMD - National Missile Defense) zügig zu bauen: Ein System, das anfliegende Langstreckenraketen mit Massenvernichtungspotential abfängt, ehe sie ihr Ziel erreichen.
Kalter Krieg und SDI
Pläne für derartige Abwehrsysteme waren zugleich mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen geboren, aber von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten im ABM-Vertag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von 1972 auf ein Mindestmaß begrenzt worden. Der Vertrag verbot den Supermächten die nach damaligem technischen Stand ohnehin unmögliche Abschirmung ihres gesamten Territoriums gegen "anfliegende strategische ballistische Flugkörper oder ihre Grundbestandteile"; sie vertrauten vielmehr die Bevölkerungen ihres Einflussbereichs dem Gegner als Geiseln an, und die garantierte gegenseitige Zerstörung (MAD - Mutually Assured Destruction) schreckte vom atomaren Erstschlag ab. Ronald Reagans Traum von einer atomwaffenfreien Welt war es, der diese Ordnung mit der Ankündigung einer Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI - Strategic Defense Initiative) ins Wanken brachte. Damit stellte er der Sowjetunion ein Wettrüsten in Aussicht, zu dem ihr schlicht die finanziellen und technischen Mittel fehlten. Freilich kam SDI über das experimentelle Stadium nie hinaus, doch - ob Traum oder Bluff - das als "Star Wars" berühmt gewordene Szenario hat das Seine zum Ende des Kalten Krieges beigetragen. Nachher verschwand SDI wieder in den Science-Fiction-Comics; einiges an Erfahrungen und Kenntnissen - alles in allem wohl mehr Fragen als Antworten - hatte es dennoch gebracht, mithin genug, um den Traum von amerikanischer Unverwundbarkeit am Leben zu erhalten. Zumal mit dem Zusammenbruch des "Reichs des Bösen" keineswegs der Weltfrieden ausgebrochen war.
Die neuen Bedrohungen
Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung sind vielmehr neue Bedrohungen sichtbar geworden, wenn nicht erst entstanden: Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Raketentechnologie aus den desolaten Beständen des implodierten Sowjetreichs, internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität sowie "Befreiungsarmeen" und Potentaten, die teils unter den Fittichen der Supermächte groß geworden, aber deren Einfluss längst entglitten waren. Saddam Hussein etwa ist als Gespenst stets zu Gast, wenn von der Notwendigkeit von NMD gesprochen wird. Aber auch andere - nunmehr "Sorgenstaaten" (rogue states) genannt - wie der Iran oder Nordkorea, passen in das Bedrohungsbild. Nordkorea, das möglicherweise an einer Atombombe baut, rief Ende August 1998 durch den Abschuss einer mehrstufigen Trägerrakete, die jenseits von Hondo in den Pazifik stürzte, in Japan und den USA helles Entsetzen hervor und bot damit sogar einen konkreten Anlassfall für "homeland defense", den kontinentalen Schutz vor Langstreckenraketen. Einer solchen Gefahr gegenüber heißt Raketenabwehr in der Tat soviel wie "den Krieg neu definieren" - nach einem bemerkenswerten Ausspruch Bushs. NMD sollte jede Anstrengung, ABC-Fernwaffen zu bauen, sinnlos machen.
Chance für Abrüstung - wie auch Gefahr der Aufrüstung
Aus Sicht der Russischen Föderation würde damit der ABM-Vertrag verletzt: die USA wären für russische Vergeltungsangriffe unverwundbar und könnten einen atomaren Erstschlag riskieren, so der Vorwurf. Sogleich wird von US-Seite eingeschränkt: Einen massiven Angriff könne NMD gar nicht abwehren. Das System werde vielmehr so beschaffen sein, dass die derzeitigen russischen und amerikanischen Abschreckungsarsenale sogar auf ein Drittel, also jeweils auf etwa 2.500 Atomsprengköpfe, reduziert werden könnten. Russland werde keineswegs als Bedrohung gesehen, "außer wenn Moskau dies will"; die USA würden eine Reduktion sogar einseitig vornehmen, da sie ihre Ressourcen, so die Bush-Doktrin, auf die "wahren Gefahren, die Amerika bedrohen", lenken wollten. Beim Anflug einiger weniger Raketen indes, etwa "fehlgestarteter" oder solcher aus "Sorgenstaaten", muss die Trefferquote bei 100 Prozent liegen, soll die offizielle Begründung für das Abwehrsystem glaubhaft bleiben.
Die europäischen NATO-Partner reagierten zunächst mit abergläubischer Besorgnis auf die sich verändernde Konstellation: Zum einen sah man in NMD mit Verweis auf den ABM-Vertrag eine Herausforderung neuen russischen Wettrüstens und eine Störung des weltweiten strategischen Gleichgewichts, zum anderen eine Andeutung von amerikanischem "Isolationismus", also letztlich die Gefahr ungleichen, verminderten oder fehlenden Schutzes innerhalb und trotz des NATO-Bündnisses. Letztere Sorge ist wohl mit der Überlegung zu entkräften, dass die USA ihren Beistandsverpflichtungen und darüber hinausgehenden Engagements sehr viel leichter nachkommen würden, wenn sie durch NMD geschützt wären, als sie es tun könnten, wenn sie Raketenangriffe auf ihr Staatsgebiet befürchten müssten.
In Washington wird der Terminus "national" nun jedenfalls vermieden: "Missile Defense" soll keineswegs nur kontinental, sondern nordatlantisch sein, ja vielleicht die nördliche Hemisphäre ganz umfassen. Denn die Russische Föderation könnte durchaus eingebunden werden: Amerikanische Aufträge für Russlands militärisch-industriellen Komplex könnten Wladimir Putin jene Mittel verschaffen, welche ihm zur sicheren Verwahrung ererbter Kernwaffen und zur Beschäftigung arbeitsloser Rüstungsingenieure oder zu deren standesgemäßer Entlohnung fehlen. Ein "Prozess gegenseitiger Konsultationen" soll beschritten werden, um ein über den ABM-Vertrag hinausgehendes Rüstungskontroll-Regime zu etablieren und allfällige Zusammenarbeit gerade dort zu ermöglichen, wo man einander jahrzehntelang bespitzelt hat.
Bisher haben solche Konsultationen jedoch nicht zwischen Washington und Moskau, sondern lediglich zwischen Moskau und Peking stattgefunden: Putin gelang es, alte "Meinungsverschiedenheiten" mit China auszuräumen; mit Indien, wo solche nicht bestanden, gibt es zwar vorerst keine Dreiecksallianz, aber auch immer weniger Gründe, die ihr entgegenstünden. An den ehemals verfeindeten Iran liefern die Russen demnächst Waffen und zivile Atomtechnologie.
Und sollte ein Wettrüsten auch abzuwenden und Kooperation zumindest im Bereich taktischer Abwehr tatsächlich möglich sein, so wäre es dennoch blauäugig zu glauben, dass die USA Schlüsseltechnologien mit dem ehemaligen Gegner teilen, wie sie es früher mit ihren Bündnispartnern nicht getan haben. Und möglicherweise auch in Zukunft nicht tun werden, damit sich jene nicht allzu sehr emanzipieren. An solchem Vorbehalt seitens Amerikas wird sich wohl auch die Größe des Technologie-Schubs bemessen, an welchem Europa durch die Beteiligung am Bau der Raketenabwehr teilhaben soll, wenn es nach Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder geht. Ins Bild amerikanischen Unilateralismus` passt auch, dass eine russische Raketenabwehr, welche die gesamte eurasische Landmasse, das Vorgebirge Europa inbegriffen, abschirmen sollte, in Washington auf entschiedene Ablehnung stieß; mochte dieser russische Vorschlag auch die Absicht einer Spaltung der NATO verraten, so sind es doch in erster Linie Russland und Europa, und in Ostasien Japan und Südkorea, welche sich im Kurz- und Mittelstreckenradius der von den USA als "besorgniserregend" eingestuften Staaten befinden.
Die "wahre Gefahr"
Manchen Beobachtern gilt inzwischen die VR China als eigentlicher Grund für die US-Raketenabwehrpläne, ja Peking geht sogar von dieser Annahme aus und kann sich dabei auf US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld berufen, der eine Verlagerung der amerikanischen Militärstrategie von Europa nach Asien vorantreibt und speziell auf China abstimmen will. China wird in Washington denn auch nicht mehr als "strategischer Partner", etwa gegen Moskau, sondern als "strategischer Konkurrent" bezeichnet. Die aufstrebende Atomgroßmacht würde durch NMD ihr gesamtes strategisches Drohpotential verlieren: Chinas Arsenal an Interkontinentalraketen wird auf lediglich zwei Dutzend geschätzt, wäre also auch bei Bestückung mit Mehrfachsprengköpfen wahrscheinlich nicht in der Lage, den geplanten kontinental-amerikanischen Schutzschild zu überwinden. Dieser ist in der für das Jahr 2015 vorgesehenen dritten Ausbaustufe - schon fast zu augenfällig - auf eine ähnliche Bedrohung ausgerichtet. Irdische und satellitengestützte Frühwarnradars, Computer mit Bedrohungs-Scanner und zwei Abfangraketenbasen à 125 Stück sollen dann entweder mit 50 einfachen oder mit 25 mehrfach bestückten Interkontinentalraketen fertig werden können. Zwei von drei bisherigen Tests sind allerdings fehlgeschlagen.
Peking verstärkte indes sein Raumfahrtprogramm in explizit militärischer Absicht, erhöhte den Militäretat um rund 18 Prozent und besiegelte die "strategische Partnerschaft" mit Moskau, Washington pflog eine "realistische" Politik "nationaler Interessen", besitzt aber noch immer kein funktionierendes Raketenabwehrsystem.