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Mit Pixeln neue Welten schaffen

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Das Metaverse der Zukunft ist auch eine stadtplanerische Herausforderung.
© getty images / Moment RF

Wenn wir künftig im "Metaverse" leben, muss auch der physische Raum umgedacht und der virtuelle Raum gestaltet werden.


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Um 1880 entwarf eine Gruppe von französischen Künstlern Illustrationen, auf denen die Zukunft im Jahr 2000 imaginiert wurde. Die futuristischen Motive der Kunstreihe "En L’An 2000", die auf Zigarettenpapier und Postkarten gedruckt wurden, zeigten unter anderem fliegende Feuerwehrmänner, Flugtaxis sowie ein "Cinéma-Phono-Télégraphique", eine Art Video-Telefonie mit Sprechmuschel. Im Jahr 1900, als in Paris die Weltausstellung stattfand und die Métro eingeweiht wurde, wurden gerade die ersten Telefonleitungen freigeschaltet, nur wenige hatten einen Anschluss, aber vielleicht hatten die Zeitgenossen schon eine leise Vorahnung dessen, wie eine Welt der Videotelefonie aussehen könnte. Blickt man in die Technikgeschichte, so hat Science-Fiction immer Innovationen beeinflusst.

Auch heute fragt man sich, wie die (postpandemische) Gesellschaft in 100 Jahren aussehen könnte. Geht es nach Facebook-Chef Mark Zuckerberg, werden wir künftig im Metaverse leben, einem digitalen Paralleluniversum, wo man sich mit einer Datenbrille einklinkt und mit seinem Avatar arbeitet, einkauft oder Freunde trifft. Arbeitskollegen, die im physischen Raum tausende Kilometer trennen, können an virtuellen Konferenztischen diskutieren; Studenten, die auf verschiedenen Kontinenten leben, gleichzeitig an einer Vorlesung teilnehmen; Mechaniker aus aller Welt an Autos herumschrauben. Es ist egal, ob man in New York oder in Timbuktu ist. In der "Placeless Society" (William Knoke) spielen Orte keine Rolle mehr.

Internet in 3D

Damit verknüpft ist nicht nur eine antikapitalistische Entwicklung, an deren Ende Bodenpreise möglicherweise nivelliert werden, sondern auch eine stadtplanerische Herausforderung, den physischen Raum neu zu gestalten, ja neu zu definieren. Wie sollen die Städte von morgen aussehen? Braucht es noch Bahnhöfe und Flughäfen, wenn sich jeder in seine eigene Raumkapsel zurückzieht? Werden Marktplätze zu Junk Space (Rem Koolhaas)?

Der Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser (1920-1991) schreibt in seiner Raumtheorie ("Räume"): "Die Trennung zwischen privat und publik wird immer weniger sinnvoll, wenn die sogenannten Politiker durch Kabel hindurch in der Küche uneingeladen auftauchen können. Das zwingt die künftigen Raumgestalter auch oberflächlich (und noch nicht tatsächlich räumlich) gesehen, nicht mehr über Dinge wie Mauern, Fenster und Türen, und auch nicht über Straßen, Plätze und Tore, sondern eher über Dinge wie Kabel, Netze und Informationen nachzudenken." Soll heißen: Auch der virtuelle Raum muss gestaltet werden. Nur wie? Baut man Planstädte wie im physischen Raum? Hochhäuser oder Einfamilienhäuser? Straßen oder Schienen? Renaissance oder Art déco? Wie baut man virtuelle Städte, in denen sich die Menschen wohlfühlen? Diese Fragen beflügeln Architekten auf der ganzen Welt.

Geht es nach Facebook-Chef Mark Zuckerberg, werden wir künftig im Metaverse leben.
© Anthony Quintano from Honolulu, HI, United States, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Im Gegensatz zum physischen Raum gibt es im Metaverse keine Bauvorschriften und langen Genehmigungsverfahren, keine Rohstoffknappheiten oder Lieferengpässe. Und auch keine Schwerkraft, die Himmelsstürmern Grenzen setzen könnte. Die Gesetze der Physik sind im Virtuellen ausgehebelt. Man kann im Prinzip unendlich in die Höhe bauen (die Matrix ist in einigen Spielen begrenzt), und der Code als Baustoff lässt sich beliebig nachproduzieren.

Das Metaverse als dreidimensionale Fortentwicklung des Internets, wie es Facebook und andere Konzerne entwickeln wollen, befindet sich noch im Aufbau. Einige Institutionen haben aber schon den ersten Grundstein gelegt. So hat die Organisation "Reporter ohne Grenzen" in dem Computerspiel "Minecraft" aus 12,5 Millionen Blöcken eine Bibliothek errichtet. "The Uncensored Library", ein monumentaler Kuppelbau, der ein wenig an die Library of Congress erinnert, beherbergt in seinen sakralen Hallen Artikel aus Ländern, in denen die Presse zensiert wird.

Der virtuelle Raum eröffnet neue Freiheiten. Als während des Lockdowns im März 2020 die Hochschulen geschlossen waren, bauten Studenten der University of Pennsylvania ihren Campus in "Minecraft" nach. Wohnheim, Food-Trucks, Hörsäle - Block für Block wurde das Hochschulgelände digital rekonstruiert. Sogar eine detailgetreue Replika der Fisher Fine Arts Library wurde in der virtuellen Welt kreiert.

Das Computerspiel, das man sich wie ein virtuelles Lego-Spiel vorstellen kann, ist eine Spielwiese für Architekten. So hat das Royal Institute of British Architects in Kooperation mit dem internationalen Architekten-Kollektiv Blockworks in "Mincecraft" einen Brutalismus-Bau errichtet. Das geometrische Muster der Struktur ist sowohl eine Referenz an die digitale Ästhetik von Pixeln als auch an die Formensprache des Brutalismus.

Entstofflichung

Blockworks hat 2015 im Rahmen einer Kampagne des "Guardian" eine Idealstadt ("Climate Hope City") entworfen. Das Computermodell, das wie eine Mischung aus Singapur und der Städtebausimulation "Sim City" aussieht, soll eine Blaupause für klimaneutrale Städte sein: Begrünte Hausfassaden sollen für Kühlung und ein gutes Mikroklima sorgen, mehrstöckige Farmen die Bewohner mit Obst und Gemüse versorgen, wasserstoffbetriebene Boote die Mikromobilität in den Kanälen sicherstellen. Auf YouTube kann man einen virtuellen Rundgang durch die Stadt machen. Einiges davon - etwa die vertikalen Farmen oder die Waldtürme nach dem Vorbild des Bosco Verticale - ist bekannt, anderes wirkt visionär.

Natürlich kann man sich die Frage stellen, was der Nutzen eines Windrads ist, das verloren in der virtuellen Landschaft herumsteht, wenn die Server mit schmutziger Kohlekraft betrieben werden. Doch in der Virtualität können bestimmte Wohnformen erprobt werden, die dann im realen Raum nachgebaut werden. So ließ sich das Londoner Architekturbüro JaK Studio beim Design seiner Tiny Houses von "Minecraft" inspirieren. Die modularen Kabinen, die mit Holz verkleidet und für Homeoffice oder Wochenendtrips gedacht sind, sind klein genug, um in einem Garten aufgestellt zu werden.

Im Rahmen des Medienkunst-Festivals Ars Electronica in Linz wurde 2007 erstmals ein Preis für virtuelle Architektur in "Second Life" vergeben. Der Siegerentwurf der Berliner Architektin Tanja Meyle, "Living Cloud", ist ein Luftschloss, das ihren Avatar umgibt - ein Symbol für die Privatsphäre im virtuellen Raum und gleichsam eine Allegorie für die totale Entstofflichung und Verflüssigung des Digitalen.

Die Community von "Second Life", einem Vorläufer des Metaverse, hat eine Reihe von imposanten 3D-Landschaften geschaffen: Eilande, Bohrinseln, Schlösser. Auf der "Ile Sarkozy" verteilten 2007 Wahlkampfhelfer zwischen Sonnenliegen und braun gebrannten Avataren virtuelle Pizzastücke und T-Shirts. Die Chinesin Ailin Gräf, die mit ihrem Avatar "Anshe Chung" zeitweise zehn Prozent des verfügbaren Lands besaß und als "Rockefeller von Second Life" tituliert wurde, ist in dem Spiel zur Millionärin geworden.

Virtuelle Architektur boomt - nicht zuletzt, weil es mit NFTs (Non Fungible Tokens) ein Instrument gibt, Eigentumszertifikate an virtuellen Objekten zu erwerben. So wurde im März 2021 ein virtuelles Haus ("Mars House") für eine halbe Million Dollar als NFT verkauft. Infinity Pool, Lounge, Designermöbel - das Anwesen lässt keine Wünsche offen. Man kann es nur nicht bewohnen. Zumindest nicht real mit seinem physischen Körper.

Das hält Krypto-Investoren allerdings nicht davon ab, virtuelle Immobilien und Grundstücke zu erwerben. Vor wenigen Wochen wurde in dem Krypto-Game "The Sandbox" ein virtuelles Stück Land für 4,3 Millionen Dollar verkauft. Auch in anderen Spielen wie "Axie Infinity" werden zum Teil Grundstückspreise aufgerufen, die mit Flächen in bester Lage in Metropolen mithalten könnten. Die virtuellen Bodenpreise explodieren. Grund ist im virtuellen Raum keine begrenzte Ressource, es gibt keine Unwetterschäden, kein Risiko eines Substanzverlusts. Zudem fällt beim Kauf keine Grunderwerbssteuer an. Das macht virtuelle Immobilien zu einem attraktiven Anlageobjekt.

Als erste Stadt will Seoul im Metaverse präsent sein. Die südkoreanische Hauptstadt will Ende 2022 mit einer eigenen Repräsentanz im virtuellen Raum vertreten sein. 2023 soll dann ein Bürgerzentrum eröffnet werden, wo Netzbürger mit ihren Avataren digitale Behördengänge abwickeln können. E-Mail war gestern, Teleportieren ist morgen.

Virtuelle Urbanität

Städte sind historisch betrachtet das erfolgreichste Informationssystem der menschlichen Zivilisation und nicht auf eine bestimmte "Hardware" festgelegt. Einerseits. Anderseits spiegelt urbane Infrastruktur mit ihren Stromtrassen, Schienen- und Straßennetzen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Industriezeitalters, die mit einer globalen Informationsgesellschaft nicht mehr kompatibel scheinen.

Die Pandemie hat vor Augen geführt, dass die in der Charta von Athen vorgeschlagene Entflechtung von Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr zumindest für Beschäftigte der Dienstleistungsbranche obsolet ist. Das Haus ist unter pandemischen Bedingungen nicht nur Wohnmaschine, wie Le Corbusier postulierte, sondern auch Arbeits-, Unterhaltungs- und Bildungsmaschine. Es absorbiert also Funktionen, die klassischerweise die urbanen oder suburbanen Zentren erfüllen. Die Frage ist, inwieweit sich Urbanität in das Metaverse "importieren" lässt. Lassen sich die Konstruktionsfehler der Moderne heilen? Könnte man im Metaverse Städte bauen, die funktionieren? Urbane Systeme konstruieren, die offen, demokratisch und inklusiv sind? Wo sich Avatare frei bewegen können?

In der knapp eineinhalbstündigen Facebook-Connect-Präsentation, in der Mark Zuckerberg das Metaverse vorgestellt hat, ging es viel um Gaming, Fitness und E-Commerce. Das Thema Stadt wurde nur historisierend abgehandelt. Ein Avatar besucht im antiken Rom Märkte und Geschäfte. Vielleicht wird man sich eines Tages auch ins Paris des 19. Jahrhunderts teleportieren und die Gebrüder Goncourts bei Diners begleiten können. Man hätte dann zumindest die Illusion, dass es Städte und eine bürgerliche Öffentlichkeit gibt.

Adrian Lobe, geboren 1988, schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum (u.a. "FAZ", "NZZ" und "Wiener Zeitung").