Musiktherapie bewirkt Veränderung von Hirnstrukturen. | Durch Steuerung der Aufmerksamkeit Töne ausblenden. | Homburg. Jeder dritte Deutsche hat schon einmal vorübergehende Ohrgeräusche vernommen. Doch bei gut drei Millionen Menschen in Deutschland will das Klingeln, Pfeifen, Hämmern, Kreischen und Klopfen einfach nicht mehr aus dem Kopf verschwinden. Der Tinnitus - nicht Krankheit, sondern Symptom - ist ihnen zum ständigen Begleiter geworden, der bisweilen die Lebensqualität derart einschränkt, dass die Psyche leidet und an ein geregeltes Leben kaum mehr zu denken ist.
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Viele der gängigen Therapien - vor allem beim sogenannten tonalen Tinnitus, den Pfeif- und Piepsgeräusche kennzeichnen - basieren auf der Annahme, dass es sich um eine Störung auf dem Weg zwischen der Geräuschaufnahme und Weiterverarbeitung im Hörzentrum des Gehirns handelt. Manche der Behandlungen folgen deshalb dem Muster: Wenn´s im Kopf pfeift, dann pfeif zurück. Denn bekanntlich lässt sich Schall mit Gegenschall auslöschen, was Flugzeugbauingenieure und Städteplaner in der jüngsten Vergangenheit auch bewiesen haben.
Heidelberg und Homburg
Ganz so einfach liegen die Dinge beim Tinnitus nicht, wie Forscher des Deutschen Zentrums für Musiktherapie in Heidelberg gemeinsam mit Neuroradiologen der Universitätskliniken des Saarlandes in Homburg gezeigt haben. Im Gegensatz zur bisherigen Lehrmeinung fanden sie überraschend heraus, dass bei der Wahrnehmung eines eingespielten Tinnitus-Tones, die am normalen Hören beteiligten Sinnesbahnen nicht beteiligt sind.
Zudem wiesen Christoph Krick von der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie an den Universitätskliniken des Saarlandes und sein Team nach, dass sich unter der von den Heidelberger Forschern entwickelten Musiktherapie Hirnstrukturen verändern und eine Linderung der Symptome eintritt.
"Die Kernspinaufnahmen weisen darauf hin, dass durch die Musiktherapie jene Gehirnareale angesprochen werden, die im Verdacht stehen, die krankhafte Verstärkung der klinisch relevanten Symptome zu vermitteln", sagt Krick. Tinnitus sei ein emotional gefärbter Reiz: "Je mehr Aufmerksamkeit ich dem Geräusch schenke, umso mehr und umso lauter nehme ich den Ton wahr."
Den aktuellen Befunden zufolge scheinen die zentrale "Steuerungsinstanz" der Tinnituswahrnehmung Areale im tertiären Assoziationskortex, der sogenannten Insula, zu sein. Die von Hans Volker Bolay und seinen Mitarbeitern entwickelte Heidelberger Musiktherapie versetzt Patienten in die Lage, dem lästigen Pfeifen und Piepsen mit einer veränderten Aufmerksamkeit zu begegnen. Die Patienten lernen Frieden zu schließen mit dem Geräusch und trainieren, wie man dieses durch Aufmerksamkeitssteuerung möglichst ausblenden kann.
Dadurch sinkt letztlich die seelische Belastung. Die Ergebnisse einer Studie mit 132 Teilnehmern zeigte, dass nach zehn Behandlungseinheiten 80 Prozent weniger oder keine Ohrgeräusche mehr hatten. Die behandelten Teilnehmer waren in der Lage, den Tinnitus aktiv auszublenden und ihre Aufmerksamkeit gezielt auf relevante Aufgaben zu lenken.
Kunst der Ablenkung
Bewiesen wurde das ebenfalls durch Christoph Krick, der mit seinen Kernspinaufnahmen eine deutliche Mehraktivierung eines charakteristischen Aufmerksamkeitsnetzwerks von Zellen im frontoparietalen Bereich sichtbar machte. Die Untersuchung hat deutlich gemacht, dass bei Tinnitus nicht nur für das Hören zuständige Nervenbahnen und Zentren verantwortlich sind, sondern insbesondere solche, die mit der Aufmerksamkeitssteuerung und Emotionalisierung verbunden sind.
Die Kunst der Behandler besteht nun darin, die entsprechenden Nervenverbindungen durch psychologische Tricks - sprich Ablenkung - zu lösen und den Aufbau anderer Netzwerke zu ermöglichen.