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Weil Gisela May vor kurzem fünfundsiebzig wurde, widmete Österreich 1 ihr am Sonntagnachmittag eine Ausgabe der "Menschenbilder." Mit angenehm unterkühlter Stimme erzählte sie aus ihrem Leben:
Aufgewachsen ist sie in der Nazizeit, als Tochter zweier Künstler, die "glühende Antifaschisten" waren. Immer schon wollte sie Schauspielerin werden, aber nur für ernste Rollen. Der Höhepunkt ihrer
Wünsche wäre eine Rolle gewesen, in der sie auf der Bühne hätte sterben dürfen.
Daß ihre spätere Karriere ganz und gar nicht todessüchtig verlief, ist bekannt: Gisela May gehörte zu den Künstlern, die der DDR den · nicht völlig gerechtfertigten · Ruf verschafften, eine
zukunftsorientierte Kulturnation zu sein. Als Interpretin der Songs, die Kurt Weill, Hanns Eisler und Paul Dessau auf Texte Bertolt Brechts komponierten, war Gisela May international beliebt · und es
besteht auch für posthume DDR-Kritiker kein Grund, ihre künstlerische Qualität in Frage zu stellen.
Gisela May selbst unterhält zur DDR heute ein distanziert freundliches Verhältnis: Vieles war schlimm und schlecht, sagt sie, aber der Versuch, ein antifaschistisches, neues Deutschland aufzubauen,
war richtig. Und, was für eine geborene Schauspielerin wie sie das wichtigste war: das Theater hatte in der DDR gute Jahre. Daß zumindest dieses Urteil zutrifft, zeigte sich, als alte Aufnahmen von
ihr eingeblendet wurden. Das Lied der Seeräuber-Jenny aus der "Dreigroschenoper" z. B. singt ihr so leicht niemand nach.