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Mit Vorurteilen ist gut agitieren

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Soldaten sind Mörder!" Diese von einigen Pazifisten geprägte Parole ist ein Klassiker von Vorurteil: Hoch emotional, pauschal, ohne Bezug zu relevanten Fakten und immun gegen Sachargumente. Deshalb schrieb Albert Einstein: "Ein Vorurteil ist schwerer zu spalten als ein Atom." Zudem fühlt sich blamiert, wer ein festgefügtes und verteidigtes Vorurteil aufgibt.


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Derzeit nützen die Retter Europas vor der "Islamisierung" die verbreitete Unkenntnis des Islams zu Agitation mit Vorurteilen. "Der Islam" - eine akute Bedrohung Europas, daher seien Minarette als angebliche Symbole des islamischen Machtanspruchs zu verbieten. So entsteht ein Feindbild, das irrationale Ängste weckt. Das funktioniert, weil ein Zusammenhang zwischen Islam und Terror hergestellt wird.

Der niederländische Islam-Hasser Geert Wilders steigerte bei den jüngsten Wahlen den Anteil seiner Partei von 5,9 auf 15,5 Prozent und duldet nun die konservativ-liberale Minderheitsregierung je nach taktischem Kalkül. Mit schizophrener Logik behauptet Wilders, er liebe Muslime, hasse aber den Islam. Und er setzt den Koran mit Hitlers "Mein Kampf" gleich. Gegen ihn läuft ein Prozess wegen Volksverhetzung.

Ende 2009 stimmten 57 Prozent der Schweizer entgegen der Empfehlung ihrer Regierung für ein Minarettverbot. Die Agitation gegen den Islam wirkte, weil die Rechtspopulisten Minarette in Form von Raketen plakatiert, also Bedrohung vorgegaukelt hatten.

Die Reaktionen der europäischen Rechtsaußen dokumentierten die Agitation mit Vorurteilen. Wilders sagte: "Erstmals haben sich Menschen in Europa der Islamisierung widersetzt." Italiens fremdenfeindliche Lega Nord jubelte: "Über dem heute schon fast islamisierten Europa flattert jetzt die Fahne der mutigen Schweiz, die christlich bleiben will." Und Frankreichs rechtsextreme Nationale Front sekundierte: "Die sogenannten Eliten sollten endlich aufhören, die Befürchtungen der Europäer zu ignorieren." Die steirischen FPÖ setzte noch eins drauf und gab im Internet Minarette und Muezzine für Schießübungen frei.

Diese Hatz auf das Gespenst "Islamisierung" unterbindet natürlich die Unterscheidung zwischen Islam und radikalem Islamismus. Sie vernebelt, dass der Islam in teils sogar verfeindete Richtungen zerfällt, wie ein dramatisches Beispiel beweist: Die Rechtsgelehrten der Al-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Bildungsstätte des Islam, verurteilten im Vorjahr Selbstmordanschläge als Verstoß gegen den Koran - Al-Kaida, Hamas und diverse "Gotteskrieger" ignorierten das nicht einmal.

Dieser Tage fand sich in Saudi-Arabien kein Arzt, um ein Urteil nach dem Grundsatz "Auge um Auge" zu vollstrecken. Einem Delinquenten sollte ein Auge ausgestochen und einem anderen operativ eine Querschnittslähmung zugefügt werden. Nach dem Buchstaben des Koran einigte man sich auf eine finanzielle Entschädigung. Es entspräche also der Kultur Europas, den Islam vorurteilsfrei zu betrachten.

Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".