Das Beratungszentrum "Linguamulti" unterstützt Eltern, Lehrer und Kindergartenpädagogen bei der mehrsprachigen Erziehung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Die Kinder der Tagesgruppe Sonnenstrahl rutschen ungeduldig auf ihren Sesseln hin und her, strecken eifrig die Hände in die Höhe und rufen: "Ich weiß es!" Ein aufgedrehtes Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen herrscht in dem Raum in der Johnstraße im 15. Bezirk. "Welche Tiere leben im Wald?", fragt Zwetelina Ortega. "Vuk!", ruft ein blonder Bub. "Wolf!", übersetzen die anderen. Fast alle der rund 20 Kinder haben eine andere Muttersprache als Deutsch, bei den meisten ist es Serbisch, Kroatisch oder Bosnisch, ein Mädchen spricht Ungarisch.
Normalerweise sind diese Sprachen hier nicht zu hören, im Kindergarten wird Deutsch gesprochen. Doch an diesem Tag ist die Beraterin und Workshopleiterin Ortega hier, um das Bewusstsein der Vier- bis Fünfjährigen für ihre Mehrsprachigkeit zu stärken. Die ausgebildete Sprach- und Literaturwissenschafterin war Gründungsgeschäftsführerin des Vereins "Wirtschaft für Integration", wo sie den mehrsprachigen Redewettbewerb für Jugendliche "Sag’s multi!" entwickelte. Im September dieses Jahres machte sich Ortega mit dem Beratungszentrum "Linguamulti" selbständig, um ihr Wissen und ihre Erfahrung rund um mehrsprachige Erziehung weiterzugeben. Im Therapiezentrum Gersthof im 18. Bezirk bietet sie Workshops für Eltern, Kindergartenpädagogen und Volksschullehrer an. Sie berät aber auch vor Ort in den Institutionen oder arbeitet dort direkt mit den Kindern, um die Sprachen "spielerisch mit ins Boot zu holen", wie sie sagt.
Das braucht oft ein bisschen Anlaufzeit. Die deutschen Ausdrücke kommen den Kleinen in der Kindergruppe in der Johnstraße leichter von den Lippen. Zunächst sehr zaghaft sprechen sie die Vokabeln in ihrer zweiten Erstsprache aus. Beim ersten Workshop eine Woche zuvor haben sie fast nur geflüstert, erzählt Ortega. Doch schon bald trauen sich Lorena, Marko, Pavle, Jasmin und die anderen, Katze, Gockelhahn, Wurm und Schildkröte auch auf Kroatisch oder Ungarisch zu rufen.
Vorteile der Mehrsprachigkeit
Jedes vierte Kindergarten- und Volksschulkind spricht österreichweit mindestens eine weitere Erstsprache neben Deutsch. In Wien ist es sogar jedes zweite Kind, das mit mehr als einer Erstsprache aufwächst. Dass im Kindergarten sonst nur Deutsch gesprochen wird - solange es keine auf die Mehrsprachigkeit ausgelegte Einrichtung ist -, macht Sinn, sagt Ortega. "Ich bin eine absolute Befürworterin des Konzepts ‚Eine Person - eine Sprache‘. Es ist sinnvoll, dass man das trennt und die Kinder sich auskennen - im Kindergarten sprechen sie Deutsch und zu Hause Serbisch." Dennoch will sie den Kindern sowie ihren Lehrern und Kindergartenpädagogen ein stärkeres Bewusstsein für die Vorteile der Mehrsprachigkeit vermitteln. "Es ist wichtig, dass die Kinder mit ihrer Kultur und dem zusätzlichen Wissen, das sie mitbringen, wahrgenommen werden", sagt Ortega. "Sprache und Emotion sind ganz eng miteinander verbunden. Man definiert sich auch über Sprache."
Doch gerade für Eltern, deren Nachwuchs schon eingeschult ist, ist das Beherrschen der deutschen Sprache oft das größere Thema. Vielen ist nicht bewusst, dass sich der Spracherwerb gegenseitig stützt - "die Förderung der Muttersprache erleichtert auch das Erlernen der Landessprache", sagt Ortega. Ihr gehe es darum, ein ganzheitliches Sprachkonzept zu fördern.
Was in den ersten Jahren noch nebenbei läuft, wenn die Kinder automatisch ihre Eltern kopieren, bedeutet langfristig einen Aufwand, den man sich im Vorhinein bewusst machen sollte. "Man hat so ein verklärtes Bild von Mehrsprachigkeit, dass diese einem in den Schoß fällt", sagt Ortega. Doch eine mehrsprachige Erziehung erfordert Arbeit. "Irgendwann kommt der Punkt, an dem das Vokabular ausgeschöpft ist. Dann geht es darum, neue Themen zu besprechen und Fördermomente in den Alltag einzubauen, sonst bleibt der Wortschatz sehr limitiert." In ihren Workshops und in Einzelberatung hilft Ortega Eltern dabei, eine Struktur für den Spracherwerb aufzubauen und berät, wenn es um Fragen geht wie: "Wie viel Energie möchte ich investieren?", "Wann spreche ich welche Sprache mit meinem Kind?" oder wie man das Erlernen der Sprache gezielt fördern kann.
"Eine dreisprachige Erziehung ist kein Zuckerschlecken, weder für die Eltern noch für das Kind" - das weiß Ortega aus eigener Erfahrung. Sie wurde 1979 in Bulgarien geboren, lebt seit 1987 in Österreich und wuchs selbst mit Bulgarisch, Spanisch und Deutsch auf. Ihre Tochter erzieht sie ebenfalls dreisprachig. Bei ersten Schwierigkeiten, etwa wenn Konflikte in der Familie durch die Mehrsprachigkeit entstehen oder Momente kommen, in denen das Kind die zweite Sprache verweigert, dürfe man nicht gleich das Handtuch werfen. "Das ist oft eine Phase und es gibt Möglichkeiten, das Interesse wieder zu wecken", erklärt Ortega.
Angebote der Communitys
Sie will die Eltern auch motivieren, ihren Kindern das Lesen und Schreiben der Muttersprache beizubringen. "Das bedeutet natürlich eine zusätzliche Anstrengung, aber wenn man in unserer Gesellschaft eine Sprache nicht schriftlich beherrscht, ist das keine vollständige Kompetenz." Das muss nicht nur zu Hause geschehen, viele Communitys bieten muttersprachlichen Unterricht an, in dem die Kinder auch etwas über die Kultur und die Geschichte erfahren. "Eine mehrsprachige Erziehung ist ein Langzeitprojekt, das ein Leben lang dauert. Ich möchte den Eltern gerne mitgeben, dass sie Geduld haben müssen."
In der Kindergruppe ist die Geduld der Anwesenden nach rund 20 Minuten vorerst zu Ende. In einer Pause malen sie Tiere. Danach versuchen sie, diese zu benennen. Stolz zeigt Pavle seine giftigen Schlangen her - "zmija, sagt er. Dann ist es Zeit für die Jause und die Kinder verabschieden sich von ihrer Workshopleiterin - "Auf Wiedersehen", "Cao", "Szia!" und "Do videnja!", schallt es durch den Raum.