Wie sich Frank Sinatra im Unterricht verwenden lässt - und andere ungebührliche Bemerkungen über einen Sänger, der - im Jahr seines 100. Geburtstages - vielleicht noch immer ein wenig überschätzt wird.
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Man kann wohl ohne Übertreibung feststellen, dass die Mitglieder meiner Generation mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Dutzend Schallplatten oder Silberscheiben von Frank Zappa besitzen, als auch nur eine einzige von Frank Sinatra. Trotzdem ist Sinatra knapp 17 Jahre nach seinem Tod (am 14. Mai 1998) - immer noch und überhaupt lebendiger denn je. In diesem Jahr feiert man außerdem seinen Hundertsten (am 12. Dezember), da kommt also noch einiges auf uns zu.
Mir ging es allerdings mit Sinatra von Anfang an anders, denn ich verbrachte meine Teenagerzeit - also die Sechzigerjahre - größtenteils in Deutschland. Mein Vater produzierte dort eine arabische Zeitung, zunächst in Godesberg, dann in Bonn. Das war damals die westdeutsche Hauptstadt, und so bewohnten wir eine kleine Dienstwohnung am Rande einer Diplomatensiedlung, kurz "Amisiedlung" genannt, im Godesberger Stadtteil Plittersdorf.
Die feineren Herrschaften aus aller Welt zogen hier in ihre relativ luxuriösen Standardwohnungen ein, verbrachten drei Jahre in Bonn, und sausten danach weiter nach Djakarta, Lagos oder sonstwohin. Bevor sie den nächsten Flieger bestiegen, ließen sie Schallplatten, Bücher, Kleidung und anderen Krempel, den sie vielleicht schon seit Jahren mit sich um den Globus geschleppt hatten, im Thrift Shop zurück. Das war der billige Altwarenladen, den die wohltätigen Damen der Diplomatic Community organisiert hatten -- extra für mich, wie mir schien. Mich interessierten natürlich nur die Schallplatten.
Scheiben aus aller Welt
Neuwertige LPs kosteten damals in Deutschland zwischen 18 und 20 Mark, im Thriftshop gab es sie für 15 oder 25 Cent. Alles was man tun musste, war: In einer Bank vier Mark für einen Dollar wechseln - und schon besaß man vier LPs. Dort erwarb ich "South Pacific", das Erfolgs-Musical des Jahres 1952, ich erstand dicke Scheiben aus Indien mit den 25-Minuten-Ragas eines gewissen Ustad Vilayat Khan, und ich erwarb u.a. Platten von Violeta Parra, Harry Belafonte, Bill Haley, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Ray Conniff, Jimmie Rodgers, Roger Miller und massenweise LPs von Roger Williams, dem Genie des seichten Klavierspiels. Und einen ganzen Satz Platten von Frank Sinatra.
Aber nicht genug damit. Der älteste Bruder eines Freundes von mir arbeitete als Grafiker bei Bertelsmann in Gütersloh, und brachte von Zeit zu Zeit von dort Ausschussware mit - Schallplatten aus den USA, die bei den Bertelsmännern keiner haben wollte. Was in der Familie auch keinem gefiel, landete schließlich bei mir: "Forbidden Fruit" von Nina Simone, die 21 größten Hits von Paul Anka, neu aufgenommen zu seinem 21. Geburtstag, und "Swinging Songs for Swinging Lovers" - hieß die Platte wirklich so? -- von Frank Sinatra.
Meine Freunde fanden meinen Musikgeschmack damals bescheiden, aber aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich in Deutschland zu jener Zeit nicht einmal als Kulturredakteur beim WDR eine solch vielseitige und abwechslungsreiche Plattensammlung vorgefunden hätte. Kein Wunder, dass ich, Jahre später, bei "Serenade", der nachmittäglichen Hausfrauen-Sendung von Blue Danube Radio in Wien, jede Nummer, die sie dort spielten, schon vorher kannte und mitsingen konnte.
Sprechgesang
Während der vielen Jahre, die ich in Wien Englisch unterrichtete, sagte ich meinen meist erwachsenen Schülern und Schülerinnen immer wieder: "Ich weiß, dass Sie Frank Sinatra grässlich finden, aber kaufen Sie sich eine Platte von ihm. Er singt so langsam und spricht so deutlich, dass Sie jedes Wort verstehen und mitsingen können. Bevor Sie es wissen, haben sie eine ausgezeichnete amerikanische Aussprache erworben." Natürlich beherzigte niemand diesen Rat.
Warum? Ich glaube, die Damen fanden Frankieboy nicht damen-affin genug. Sie fühlten sich von ihm nicht auf die gleiche Weise angesprochen wie von Elvis Presley oder Konstantin Wecker. Daran war natürlich die Stimme schuld, die Vortragsweise, dieses leicht angedickte Rezitativ, das locker in eine Oktave hineinpasste, mit viel freiem Platz nach oben und unten. Wenn er keine Worte benutzt hätte, hätte auch ein dah-da-DAAAH gereicht, als stimmliche Posaune oder Fanfare. Im Grunde sang Sinatra ja auch nicht, er sprach seine Texte in den Raum, rhythmisiert, aber hart und fast vibratofrei. Das hat ihm dann die Knef abgeschaut bzw. -gehört. Ihre Band tschuggelte rhythmisch dahin, und sie setzte ihren Text irgendwo darüber oder dazwischen, wo eben noch Platz blieb.
Sinatra hatte die bessere Band. Die Aufnahmen mit der Hausband seiner damaligen Plattenfirma, Capitol, sind klar, sauber und durchaus lebhaft gespielt, und die Stimme ist auch noch gut. Aber seine große Zeit, als Mädchenschwarm der Dorsey-Band, von Karikaturisten immer als bloßer Kopf mit strichdünnem Körper gezeichnet -- das war vorbei.
Es folgte die Zweitkarriere als Schauspieler, die Glanzrollen in "From Here to Eternity" und insbesondere als "The Man with the Golden Arm", wo er vielleicht echt Speed eingeworfen hat oder sich ein Koks-Näschen geleistet hat, denn sein Method-Acting ist vom Feinsten. Er bringt einen totalen Cold Turkey ohne Schnitt in knapp fünf Minuten unter. Das Buch von Nelson Algren, damals der Roman des Jahres, ist heute unlesbar, aber der Film ist nach wie vor eine Wucht.
Hochgeschobener Hut
Dann die Drittkarriere: Sinatra singt depressiv-besinnliche Lieder für Flugkapitäne ab Mitte 40. Und dazu auf jeder Platte die nicht ganz ernst gemeinten Fotos. Sinatra - über sein Notenpult gefaltet, eingeschlafen nach acht Stunden Dauergesang im Studio. Oder: Lockere Krawatte, den Hut hochgeschoben, betrachtet er lächelnd ein Notenblatt. Ein junger Schwarzer, vielleicht George Benson, der Gitarrist des Orchesters, schaut zweifelnd zum Dirigenten hinüber. "Ob Frankie das alles kapiert? Er kann doch gar keine Noten lesen, oder?", scheint er zu fragen. Egal. Er kann die Texte lesen. Aber auch das nicht immer. Man hört es deutlich, ab und zu verliert er die Stelle im Text, oder singt sie falsch: "I see your faith in every flower" beispielsweise, dann merkt er, dass er eigentlich "face" singen sollte und schummelt hinten an das "th" von "faith" noch schnell ein "s" mit hinein. Merkt eh keiner. So nachlässig arbeitet im Studio sonst nur noch Bob Dylan.
Apropos Dylan. Auf Bootlegs findet man’s belegt, auf Live-Konzerten hat auch er immer wieder eine Sinatra-Nummer drunter gemischt, das heißt, er hat den einen oder anderen Song gebracht, den auch Sinatra gecovert hat, aber er tat das dann meistens mit der Entschuldigung: "Tut mir leid, Leute aber da gibt es eine ganz besondere Person im Publikum, die sich das gewünscht hat".
Auf dem kürzlich erschienenen Dylan-singt-Sinatra-Album ("Shadows In The Night") gibt es nur zwei Songs, die ansatzweise radiotauglich sind: "Some Enchanted Evening", die klassische Nummer von Enzio Pinza, die mit Sinatra rein gar nichts zu tun hat, und "Les Feuilles Mortes", den Klassiker von Jacques Prevert, den Dylan auf einen einzigen Vers reduziert. Vielleicht schafft er es bis zur nächsten Live-Aufnahme, auch noch den Rest des Textes dazu zu lernen. Ansonsten, Altersmelancholie.
Im Schunkeltempo
Sinatra war immer ein Mann des Vier-Viertel-Takts, oder des Swings, und doch kam der einzige echte Hit seiner Karriere - sehr spät, aber dann doch sofort, mit echter Strahlkraft präsent -- im Schunkeltempo daher, komponiert von Bert Kaempfert: "Strangers in the Night". Ein bisschen blöde, fast wie "Wild Thing" von den Troggs, daher auch die zahlreichen Parodien des Songs, und doch ein Instant-Klassiker. Danach kam noch das Duett mit Tochter Nancy ("Something Stupid"), dann "My Way", die Paul Anka-Komposition, und natürlich "New York, New York", die You Tube-Nummer, die heute jeder 14-Jährige kennt.
Zum Schluss jetzt aber doch noch einmal ein Lehrer-Hinweis: Ganze 50 Jahre lang hielt Sinatras alte Firma, Capitol, heute Sony, Sinatras Walzer-Platte unter Verschluss. Sie war kein echter Erfolg gewesen, es dominierte Brachial-Tristezza, nicht einmal "Are You Lonesome Tonight" kam so richtig auf Touren. Jeder Song eher laaangsam, und der Dreiviertel-Takt kam auch eher wie ein falscher 4/4tler daher ("EINS-zwei-drei, und/ EINS-zwei-drei, und / EINS. . ."). Aber das Orchester ist erste Sahne, auf Deutsch gesagt.
"All Alone", heißt die Scheibe aus dem Jahr 1962, und selbst wenn Sie, lieber Leser, immer schon Sinatra-Fan waren, diese Platte wird Ihnen entgangen sein. Als Wiener werden Sie’s zu schätzen wissen, dass er versucht, zu walzern, wie eckig auch immer, und natürlich singt er sooo langsam, dass sie ihm praktisch die Rachenmandeln abzählen können. Also Mitsingen und Englisch lernen in einem - das ist doch praktisch. Oder?
Tom Appleton, geb. 1948, Journalist, Schriftsteller, Lehrer und Bewohner von Hauptstädten. Nach Jahren in Berlin, Teheran, Bonn, Wellington und Wien lebt er nun wieder in Neuseeland.