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"Mittelalterliche" Moderne

Von Christoph Butterwegge

Politik

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Der (nordwest)europäische Sozialstaat erscheint seinen Kritikern im viel beschworenen "Zeitalter der Globalisierung" als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, als Hemmschuh der Wettbewerbsfähigkeit und als bloßes Investitionshindernis, kurz: als Dinosaurier, der ins Museum der Altertümer gehört, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.

Globalisierung meint jedoch zunächst nur die Überschreitung bzw. Überwindung nationalstaatlicher Grenzen, auch wenn sich damit heute ein schrankenloses Profitstreben auf Kosten von Belegschaften, Arbeitslosen und Pensionisten verbindet. Standortsicherung dient als Schlachtruf (einfluss)reicher Gruppen im gesellschaftlichen Verteilungskampf. Großunternehmer, Bankiers und Topmanager, eigentlich Verursacher der Arbeitslosigkeit, bleiben dadurch weitgehend von öffentlicher Kritik an ihren Maßnahmen verschont. Allenfalls dann, wenn sie auf Bilanzpressekonferenzen gleichzeitig Milliardengewinne und Massenentlassungen verkünden, nehmen Medienvertreter/innen gelegentlich Anstoß am Treiben transnationaler Konzerne.

Der Neoliberalismus war zunächst eine Wirtschaftstheorie, aus der sich dann eine Sozialphilosophie entwickelte, welche den Staat und die gesamte Gesellschaft aus Effizienzgründen nach dem Modell der Leistungskonkurrenz (um)gestalten will, wobei ihr der Markt zum Mythos und der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftssubjekten zum Wundermittel für die Lösung aller sozialen Probleme gerät.

Die neoliberale Ideologie wirkt deshalb so überzeugend, weil sie in sich schlüssig, aber nicht sehr kompliziert - abschätzig gesagt: simpel konstruiert - ist und der Funktionslogik des bestehenden Wirtschaftssystems entspricht, das seit dem Bankrott des Realsozialismus sogar Kritiker(inne)n völlig alternativlos erscheint.

Inhalt des neoliberalen Projekts ist die Befreiung des Kapitals von seinen Fesseln, wodurch eine Wachstumsdynamik erzeugt werden soll, die wiederum höhere Renditen ermöglicht ("shareholder value"), vermeintlich jedoch auch für mehr Arbeitsplätze, Beschäftigung und Wohlstand sorgt. Es geht um die Ökonomisierung (fast) aller Gesellschaftsbereiche, deren Restrukturierung nach dem Modell einer Marktwirtschaft sowie die Generalisierung seiner fragwürdigen Effizienzkriterien und Konkurrenzmechanismen. Zu einer Zeit, wo sich das Wettbewerbsprinzip auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer seit Jahrzehnten hohen Arbeitslosigkeit überhaupt nicht mehr bewährt, soll es auf ihm wesensfremde Gebiete übertragen werden.

Der "schlanke Staat" des Neoliberalismus ist keineswegs frei von bürokratischen Auswüchsen - im Gegenteil: Für personenbezogene Leistungskontrollen, ausgedehnte Evaluationsbürokratien und die Vergabe von Innovationspreisen werden womöglich mehr Sach- und Personalmittel benötigt als bis dahin. Gleichzeitig propagieren Ultraliberale einen reinen Fürsorgestaat, der die Lohn(neben)kosten und die Sozialleistungen reduziert, damit sie die transnational agierenden Firmen kaum belasten und deren Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt nicht gefährden. In einem Kostensenkungswettlauf der Wirtschaftsstandorte würden die Leistungsstandards so lange "nach unten nivelliert", bis die sog. Dritte Welt mit ihren Armutsgettos gewissermaßen überall wäre. Was als "Modernisierung" tituliert wird, ist teils nur die Rücknahme demokratischer und sozialer Reformen bzw. Regulierungsmaßnahmen, mit denen die westlichen Nationalstaaten das große Kapital einer gewissen Kontrolle unterwarfen. Die sozialpolitische Postmoderne trägt mittelalterliche Züge, beispielsweise im Hinblick auf die Rückkehr einer Klasse schlecht entlohnter Dienstboten auf die gesellschaftliche Bühne. Denkt man an die Privatisierung des Autobahnbaus oder die Einführung von Studiengebühren an Hochschulen, drängen sich mit dem Wegezoll, den Feudalherren von Reisenden kassierten, und dem Hörergeld, das an den Universitäten der Landesfürsten entrichtet wurde, noch weitere historische Parallelen auf. Unter dem Druck eines sich über die ganze Welt ausbreitenden Liberalkapitalismus wurde der Modernisierungsbegriff ökonomistisch verkürzt und inhaltlich pervertiert. Als "modern" gilt demnach, was im Grunde völlig antiquiert ist: z.B. soziale Unsicherheit, ideologisch als höchster Ausdruck "persönlicher Selbständigkeit" oder individueller Freiheit verbrämt. Wir erleben gegenwärtig die Umwertung aller Werte: Unsozial zu sein gilt nicht nur als zeitgemäß, vielmehr auch und gerade als sozial; (Chancen-)Gleichheit verwirklicht sich in realer Ungleichheit; gerecht ist, was den Kräften des Marktes entspricht. Die tiefe Sinnkrise des Sozialen besteht darin, dass es - quer durch die etablierten Parteien und fast alle gesellschaftlichen Lager hindurch - primär als Belastung der Volkswirtschaft und potenzielle Gefährdung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten gesehen, aber nicht als eigenständiger Faktor begriffen wird, der über die Humanität und Lebensqualität einer Gesellschaft entscheidet.

Schritte zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen, sozialer Dienstleistungen und allgemeiner Lebensrisiken, zur Deregulierung quasistaatlicher Funktionsbereiche sowie zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten sind Marksteine auf dem Weg zu einer voll durchkommerzialisierten und -rationalisierten "Aktien-Gesellschaft", die sich über den ganzen Planeten erstrecken soll.

Die neoliberale Hegemonie, wie man die Meinungsführerschaft des Marktfetischismus nennen kann, verschärft nicht nur die soziale Asymmetrie, sondern ist auch eine Gefahr für die Demokratie, weil sie Politik, begriffen als gesamtgesellschaftlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, durch Konkurrenzmechanismen der Ökonomie ersetzt. Privatisierung läuft auf Entpolitisierung, diese auf Entdemokratisierung der Gesellschaft hinaus, weil nunmehr der Bourgeois jene Entscheidungen trifft, die eigentlich dem Citoyen bzw. dem Gemeinwesen und seinen gewählten Repräsentant(inn)en vorbehalten bleiben sollten. Zudem ist der neoliberale Minimalstaat eher Kriminal- als Sozialstaat, denn die Reduktion der Wohlfahrt zwingt ihn verstärkt zur Repression gegenüber Personen(gruppen), die als "Modernisierungsverlierer/innen" und als Opfer seiner rückwärtsgerichteten "Reformpolitik" bezeichnet werden können.

Univ.-Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft und ist Geschäftsführender Direktor des Seminars für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.

Das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) ist ein privater, gemeinnütziger und parteiunabhängiger Verein zur Förderung von Friedensforschung, Friedenserziehung und Friedenspolitik. Schwerpunkte sind die Friedensuniversität und die Trainingskurse für zivile Konfliktbearbeitung.