Basisdemokratie, aktive Mitgestaltung des Bildungsprozesses durch Studierende und Zusammenarbeit mit nicht oft und nicht gern wahrgenommenen Mitmenschen im ländlichen und städtischen Raum - das sind einige Grundsätze der Abteilung Arquitectura popular an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), der größten Universität Lateinamerikas.
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"Das Ziel unserer Abteilung ist es, ArchitektInnen auszubilden, die ihren Beruf nicht isoliert von der Gesamtrealität betrachten, sondern, die mit ihrer Arbeit die Gesellschaft verändern", berichtet Rogelio Jiménez Jacinto, Architekturprofessor und Vorstand der Abtei- lung I an der UNAM.
Der Großteil, rund 80 Prozent, aller Wohnungen bzw. Häuser in Mexiko Stadt seien selbst gebaut. Üblicher Weise wird mit dem Bau eines Raumes begonnen, bei Bedarf bzw. wenn die Mittel ausreichend sind, wird aufgestockt. Professionenelle Architekten gibt es dabei nicht. Bei einem durchschnittlichen Verdienst von fünf Euro pro Tag könnten sich einfache Arbeiter "normale" Wohnungen zu im Schnitt 150 Euro pro Quadratmeter kaum leisten, erläutert Jacinto.
Die Abteilung I bildet laut Jacinto Studierende aus, die sich für diese Menschen einsetzen. Ab dem ersten Studienjahr werden Kontakte zwischen Studierenden und Bewohnern marginalisierter Stadt- oder Landviertel geschaffen und so Theorie und Praxis miteinander verbunden. An der Arquitectura popular sind 320 Studierende inskribiert, die mit 25 ProfessorInnen zusammenarbeiten: "Wir lernen gemeinsam. ProfessorInnen und StudentInnen sind per Du und wir gehen davon aus, dass sich nicht nur die Lehrenden auskennen, sondern, dass diese auch von den Studierenden lernen können", betont der Architekturprofessor.
Arquitectura popular und ihre Wurzeln
Ihre Anfänge nahm diese Art des Studiums in der StudentInnenbewegung 1968. Am Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco versammelten sich am 2. Oktober 1968 tausende Menschen, um u.a. für mehr Demokratie zu demonstrieren. Ihr Motto lautete: "Sich nicht des Volkes bedienen, sondern dem Volk dienen". Dabei wurden 400 bis 500 Studierende durch Polizeischüsse getötet. Die Demonstrationen waren der Start für die Autonomie der UNAM. Im Jahr 1972 wurde die Universitätsdirektion besetzt und die UNAM in Folge in zwei Arme unterteilt: Ein Teil verfolgt seither automome Konzepte, der andere Teil "reaktionäre" Lehrziele. In dieser Zeit entstand das Konzept der Abteilung I der Fakultät für Architektur. Daneben existieren 15 weitere Architekturabteilungen: "Es gibt also 16 verschiedene Schulen, darunter sehr elitäre Abteilungen, die nicht jedeN studieren lassen und solche, die die Architektur der ersten Welt kopieren. Wir arbeiten mit der ärmeren Bevölkerungsschicht zusammen", sagt Jacinto.
"Politisches Bewusstsein schaffen und aktiv werden"
Unter den Anfragen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Mexikos, die an die MitarbeiterInnen der Arquitectura popular herangetragen werden, wird eine Auswahl getroffen. Jacinto nennt die Vorteile für alle Beteiligten: "Die Studierenden lernen in der Praxis unter der Betreuung der Profes- sorInnen - die jeweilige Gemeinschaft, für die wir planen, organisiert im Gegenzug ein großes Fest."
Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit der Arquitectura popular ist, das politische Bewusstsein zu stärken und sich realpolitisch zu engagieren. Derzeit werden Arbeiten mit zapatistischen Gemeinden im Bundesstaat Chiapas durchgeführt: So werden Schlafsäle für internationale MenschenrechtsbeobachterInnen und Büroräume der zapatistischen "Räte der guten Regierung" konzipiert. "Eine StudentInnengruppe errichtete für eine zapatistische Kaffeekooperative eine Cafeteria in Mexiko Stadt", erzählt Jacinto.
Unterstützung für Landlose, Proteste gegen Unireform
Politisch aktiv war die Abteilung I bei einer der größten Landnahmen Lateinamerikas und der Verhinderung der geplanten Universitätsreform 1999. Im September 1971 nahmen MitarbeiterInnen der Arquitectura popular an der Besetzung des heutigen Stadtteils Santo Domingo de Los Reyes teil. Aus einem Slum mit Wellblechbleiben schufen und schaffen die BewohnerInnen einen Ort mit festen Häusern, an dem sich die Menschen gemeinschaftlich organisieren.
Eine zentrale Rolle nahm die Abteilung I im Rahmen des elf Monate lang dauernden Streiks an der UNAM im Jahr 1999 ein: Die Studierenden hielten Diskussionsforen und Demonstrationen ab und informierten über ihre Anliegen: "Uns war wichtig, die Bevölkerung zu überzeugen, dass StudentInnen nicht faul sind, sondern sich Gedanken machen", meint Jacinto. Die Unireform, die u.a. eine Erhöhung der Studiengebühren und die Einführung von Mindeststudienzeiten vorgesehen hatte, die eine Bedingung des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Kredite an Mexiko waren, wurde verhindert. Jacinto: "Unser Anspruch, Bewusstseinsbildung bei den StudentInnen zu erreichen, ist nicht immer leicht, aber es ist unser Ziel."