Italien und Spanien kennen die Frankfurter Studentinnen Nadja Losse (24) und Julia Irsch (28) nach zahlreichen Aufenthalten inzwischen wie ihre Westentasche. "Von Osteuropa hingegen hatte ich kaum mehr als vage Vorstellungen, mein Interesse hielt sich in Grenzen", bekennt die Germanistin und Hispanistin Julia Irsch. Wie Nadja Losse, die Kulturanthropologie studiert, hätte sie sich nie träumen lassen, Deutschlands größtes Nachbarland im Osten für einen längeren Zeitraum zu besuchen, geschweige denn dort zu arbeiten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Seit Ende August sieht die Welt anders aus: Sieben Wochen lang beteiligten sie sich am ersten Praktikantenaustausch zwischen Frankfurt und Krakau, initiiert wurde er von der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, die für den Förderschwerpunkt Europäische Integration die langjährige Partnerschaft zwischen den beiden Grossstädten nützt.
Jedes Jahr wählt die Stiftung mit den Stadtverwaltungen pro Land jeweils zehn Teilnehmer am Praktikantenprogramm KAFKA (kommunaler Austausch Frankfurt-Krakau für junge Akademiker) aus, vermittelt sie je nach Neigung und Qualifikation überwiegend an kommunale Behörden, gewährt ein Stipendium sowie einen Sprachkurs. Ausserdem sorgt sie für kostenfreie Unterkunft in Studentenwohnheimen, die während der Semesterferien leer stehen. Grundvoraussetzung für die Bewerber ist, dass sie schon zuvor an Austauschprogrammen, egal mit welchen Ländern, teilgenommen und Auslandserfahrung gesammelt haben.
Unterdessen beteiligen sich auch Leipzig und Danzig am Praktikantenaustausch, Prag und Budapest werden dem Verbund gleichfalls beitreten. Marlies Mosiek-Müller, Sprecherin der Geschäftsführung der Hertie-Stiftung, will den Austausch in den kommenden Jahren auf ganz Europa ausweiten und so "das bewährte Netzwerk der Städtepartnerschaften in der jüngeren Generation mit Leben füllen".
Mit diesem Ansatz widmet sich eine gemeinnützige Institution erstmals einem seit lange brachliegenden Feld: Berufsbezogene Praktika sind in Osteuropa weitgehend unbekannt, im Westen gibt es viel zu wenige Stellen und "immer öfter müssen sich die Auserwählten damit abfinden, dass sie noch nicht einmal eine finanzielle Entschädigung erhalten", berichtet Julia Irsch, die bei einer PR-Agentur und einem renommierten Frankfurter Buchverlag Praktika absolviert hatte.
Ihre ersten osteuropäischen Arbeitsplätze auf Zeit liegen im renommierten Krakauer Buchinstitut, das als staatliche Gründung polnische Literatur im Ausland bekannt macht und vorrangig Übersetzungen in andere Sprachen fördert. Schnell habe sich die anfängliche Furcht, "vornehmlich für anspruchslose und unliebsame Aufgaben eingesetzt zu werden und damit das Praktikum lediglich abzusitzen", so Nadja Losse, als unbegründet erwiesen. Vielmehr beteiligte sie sich an der Vorbereitung des polnischen Auftritts an der Frankfurter Buchmesse, dann hat man sie gebeten, die Internet-Seite des Buchinstituts zu perfektionieren.
Ihre Bilanz fällt positiv aus: "Ein Literaturbetrieb wie das Buchinstitut unterscheidet sich nur unwesentlich von einer deutschen Literaturagentur", resümiert Julia Irsch. "Polen muss nicht erst Europa werden, sondern ist es bereits", fasst Najda Losse ihre Erfahrungen zusammen.
Vorurteile ausräumen . . .
Osterfahrung hat der Jurist Tilmann Krömmelbein (29) bereits während eines Gastsemesters in Litauen erworben; er fand eine Stelle als Praktikant im städtischen Referat für Europäische Integration. Schon jetzt steht für ihn fest, dass er sich auf das Gebiet Osteuropa-Recht spezialisieren will.
Tilmann Krömmelbein und der gleichaltrige Steffen Kress, der sein Jurastudium ebenfalls mit dem ersten Staatsexamen abgeschlossen hat, verhehlen nicht, dass sie dem ersten Arbeitstag im Rathaus mit Bangen entgegenblickten. Anstatt einer "verstaubten, verkrusteten Bürokratie" stiessen sie jedoch auf junge und dynamische Teams und Vorgesetzte, die von den Praktikanten Eigeninitiative erwarteten.
Steffen Kress schlug vor, drei Krakauer Stadtviertel mit sozialen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Problemen zu untersuchen und erhielt spontan grünes Licht. Er verglich die Ergebnisse mit der Situation in Wohnvierteln der Krakauer Partnerstädte und fasst die dort umgesetzten Strategien zur "Revitalisierung" für das EU-Fördermittelreferat zusammen. "Dabei konnte ich selbständig arbeiten, man hat mir völlige Gestaltungsfreiheit zugestanden", berichtet Kress, der jetzt seine Disseration zur internationalen Rechts- und Amtshilfe vorbereitet.
Besonders lebhaft ist ihm die polnische Improvisationsgabe in Erinnerung geblieben: "Kaum sind die neuen Verwaltungsvorschriften nach EU-Vorbild einigermassen eingearbeitet, werden sie schon wieder verändert oder ergänzt. Während sich die Beamten mit den Normen vertraut machen, müssen sie ständig Ratsuchenden Auskunft erteilen: Behördenalltag in einem Transformationsland", fügt Kress hinzu. Es gebe keine bessere Methode, als durch ein Praktikum "gängige Vorurteile" über das östliche Nachbarland, darunter die berüchtigte "polnische Wirtschaft", aus der Welt zu räumen.
Dazu trägt auch das an den Wochenenden stattfindende Rahmenprogramm des Austausches bei: Besuche bei Industrieunternehmen und Medienverlagen gehören dazu, Gesprächsrunden mit Politikern und Vertretern der Kirche sind ebenso vorgesehen wie kulturhistorische Streifzüge durch Südpolen und ein Augenschein im neu eröffneten Galicia Jewish Museum im Stadtteil Kazimierz, in dem einst zahlreiche jüdische Polen lebten.
Verständigungsprobleme hätten nur eine Randrolle gespielt, "Englisch und Deutsch ist bei der jüngeren Generation weit verbreitet", bekräftigt Kress, wer jedoch länger bleibe, werde nicht um das gründliche Erlernen der Landessprache herumkommen, "leider machen wir Deutschen tendenziell wenig Anstalten, Polnisch zu lernen", meint er bedauernd.
. . . und Chancen nutzen
Das bestätigt auch der 24-jährige Sebastian Steinhäusser, Student der Kunstgeschichte; auf Architekturgeschichte, Renaissance und Gotik spezialisiert, fand er in seinem temporären Chef Adam Oganisty einen Museumskurator, der Goethes Sprache blendend spricht.
Auch Steinhäusser begab sich zu seiner Arbeitsstätte, dem Krakauer Nationalmuseum, anfangs mit gemischten Gefühlen. "Ob die Polen überhaupt wollen, dass wir uns als deutsche Kunsthistoriker mit polnischer Kunst befassen?", habe er sich mit Blick auf das gegenwärtig wieder angespannte deutsch-polnische Verhältnis gefragt.
Auch diese Bedenken stellten sich unbegründet heraus. Er half bei der Vorbereitung einer 2005 geplanten Veit-Stoss-Ausstellung, dabei organisierte Steinhäusser eine im Vorfeld geplante Konferenz, zu der Teilnehmer aus deutschsprachigen Ländern eingeladen sind. Diese erste Berufserfahrung, die er dank Praktikum erwerben konnte, beurteilt Steinhäusser als "ausschlaggebend" und schon jetzt steht für ihn fest, dass er sich auf osteuropäische Kunst spezialisieren wird.
Gewiss hat auch die kulturelle Attraktivität der einstigen polnischen Hauptstadt, die bis 1918 zur Doppelmonarchie gehörte und völlig erhalten blieb, ihren Anteil am Gelingen dieses Praktikumsaustausches. Zu den grössten Überraschungen zählte übrigens die Tatsache, dass die Praktikanten eigenen Worten zufolge immer wieder höflich daraufhingewiesen wurden, Krakau liege nicht im Osten, sondern sei Bestandteil Mitteleuropas.
http://www.ghst.de