Quer durch Europa werden die Debatten um die Reformen des Pensionssystems immer mehr zum Prüfstein für die Regierungen. Michel Rousseau, Sprecher der "Euromärsche", war im Vorfeld des EU-Gipfels von Thessaloniki zu Koordinationsgesprächen in Wien. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über die Streiks in Frankreich, den neuen Charakter der Protest-Bewegung durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft außerhalb gewerkschaftlicher Strukturen und die gesamteuropäische Dimension der Sozialabbau-Problematik.
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Es sei nicht so wie 1995, wo kurze heftige Streiks und Proteste die französische Regierung rasch kapitulieren ließen, sagt Rousseau. Diesmal seien die Fronten härter. Die derzeitigen Auseinandersetzungen hätten in mehrfacher Hinsicht eine neue Qualität. Die Regierung wolle unter dem Deckmantel der Pensionreform das umfassendste und einschneidenste Sozialabbau-Paket seit der Erfindung des Sozialsystems durchbringen. Und die geplante Dezentralisierung des Bildungssystems würde zu unterschiedlichen Bildungsniveaus je nach wirtschaftlichem Erfolg der jeweiligen Region führen. Aber auch der Widerstand dagegen habe eine neue Dimension. Die Gewerkschaften agieren so vernetzt ineinandergreifend wie nie zuvor. So liegen zum Beispiel Lehrer vor den Linienbussen von Streikbrechern, um die streikenden Busfahrer zu unterstützen.
Abseits der gewerkschaftlichen Struktur
Die wirkliche Innovation ist aber die Mobilisierung der Zivilgesellschaft abseits der gewerkschaftlichen Strukturen. Der Aufruf zum Protest ging zwar von der Gewerkschaft aus, "landete aber in den Wohnvierteln", so Rousseau. Die Vorbereitungstreffen für das 2. Europäische Sozialforum in Paris kommenden November entwickelten sich zu gut besuchten Kampftreffen, in denen konkrete Aktionen geplant wurden. Die Bewegung wachse auch ohne straffe Koordination von selbst. Unzählige Organisationen und Netzwerke gegen den neuen Neoliberalismus gesellten sich zu der sowieso schon breit gefächerten Gewerkschaftslandschaft Frankreichs. Die "Euromärsche" seien als eine Art Dachverband für diese jungen zivilen Widerstandsgruppen zu verstehen.
Trotzdem scheint die französische Regierung diesmal hart bleiben zu wollen, meint Rousseau. Aber die Bewegung sei bereits so stark, dass es selbst bei einem Rückschlag in der aktuellen Sache "noch lange nicht vorbei" sei.
"Eine europäische Herausforderung"
Man müsse auch die europäische Dimension der Auseinandersetzung erkennen. Die Konvergenzkriterien zwingen die EU-Staaten in immer härtere Sparprogramme. Im Weltkontext hatte Europa immer die Ausnahmesituation des Ausgleichs durch die Sozialpartner, sagt Rousseau. Unter dem Vorwand der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit werde diese Errungenschaft nun mutwillig demontiert. Dies erfordere eine internationale Koordination der Bewegung "für ein anderes Europa." "Hausgemachte nationale Lösungen sind nicht mehr ausreichend.", resumiert Rousseau.
Deshalb werden jetzt konkrete Alternativen angeboten, anstatt nur zu protestieren. Experten innerhalb der Bewegung entwickeln Alternativmodelle zu den Regierungsansinnen, welche von Juristen "greifbar gemacht" werden. Das Wirschaftswachstum habe sich zwar verlangsamt, aber es findet immer noch statt. Inzwischen wäre das französische Arbeitnehmereinkommen um rund zehn Prozent gesunken, und über den Umweg Pensionsreform will man es noch einmal ähnlich stark kürzen, während die Kapitalseite die Gewinne einstreift. Für eine derartige Umverteilung von arm auf reich sieht Rousseau keine reellen Argumente. "Es kann nicht angehen, dass das vorhandene Geld immer nur derselben Seite zu gute kommt", umreißt er sein Unverständnis für die neue Neoliberale Strömung, die von Europa Besitz zu ergreifen droht.