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Mobilisierung ohne Masse

Von Ronald Schönhuber

Politik

Eine Massenmobilisierung ist für Putin, der am 9. Mai keinen Sieg verkünden kann, schwierig umzusetzen.


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Im Zentrum von Moskau ist längst alles vorbereitet. Tagelang haben die mechanisierten Verbände der russischen Armee den richtigen Ablauf für die große Siegesparade geübt; die tausenden Soldaten, die am 9. Mai im Stechschritt über den Roten Platz marschieren werden, wissen genau, wo ihr Platz ist. Nichts soll am wichtigsten russischen Feiertag dem Zufall überlassen bleiben.

Dennoch werden die Feierlichkeiten zum Sieg über Nazi-Deutschland 1945 diesmal ganz andere sein als in den Jahren davor. Denn Russland, das am 9. Mai traditionell nicht nur der 27 Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges gedenkt, sondern auch das Gefühl, nach dieser Nahtod-Erfahrung überlebt zu haben, zelebriert, befindet sich erneut selbst im Krieg. Wladimir Putin, der Warlord im Kreml, will sich die nach Westen strebende Ukraine untertan machen. Seit dem Beginn der Invasion am 24. Februar hat die russische Armee Gebiete im Süden und Osten der Ukraine erobert, zahlreiche Dörfer und Städte wurden regelrecht ausradiert.

Trotz des enormen Einsatzes von Mensch und Material kommt Putins Feldzug, der ursprünglich als nur wenige Tage dauernder Blitzkrieg geplant war, nicht voran. Im Norden und Osten von Kiew musste sich die russische Armee angesichts der massiven ukrainischen Gegenwehr komplett zurückziehen und auch im Donbass, dem erklärten neuen Fokus von Putins Truppen, kommt die Offensive nur schleppend voran. Es gibt kaum Geländegewinne und wenn, sind diese mit hohem Blutzoll erkauft. Zumindest 10.000 russische Soldaten haben nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums bisher ihr Leben in der Ukraine verloren, vermutlich sind es aber viel mehr.

Keine Trophäe in Sicht

Dass Wladimir Putin am "Tag des Sieges" die vollständige Eroberung der Oblaste Donezk und Luhansk und damit die Quasi-Vervollständigung der gleichnamigen, aber bisher deutlich kleineren prorussischen "Volksrepubliken" verkünden kann, ist angesichts des ins Stocken geratenen Vormarschs ausgeschlossen. Als Trophäe bliebe für den russischen Präsidenten damit nicht viel übrig. Putin könnte vielleicht noch den Status quo des Krieges im Süden und Osten der Ukraine als erfolgreiche "Entmilitarisierung" des deutlich kleineren Nachbarlandes verkaufen oder die Einnahme von Mariupol - trotz des nach wie vor aufrechten Widerstands im Asovstal-Werk - als die versprochene "Entnazifierung".

Im vielen westlichen Ländern mehren sich daher die Sorgen, dass Putin bei seiner Rede am 9. Mai nicht auf gesichtswahrende Beschwichtigungsrhetorik setzt, sondern auf nachhaltige Eskalation. Spekuliert wird dabei vor allem über die nicht nur begriffliche Ausweitung von Russlands "militärischer Spezialoperation" zum umfassenden Krieg. "Ich wäre nicht überrascht, wenn Putin am 9. Mai erklären würde, man sei im Krieg mit den Nazis dieser Welt und müsste daher die Masse des russischen Volkes mobilisieren", sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace vor wenigen Tagen gegenüber dem Radiosender LBC.

Mit einer angeordneten Massenmobilisierung würde Putin ausgerechnet am 9. Mai in die Zeit der großen Kriege zurückkehren. Im Zweiten Weltkrieg hatte die russische Armee die deutschen Truppen weniger aufgrund überlegener Taktik oder besserem Material in die Knie gezwungen als mit der schieren Masse der Bevölkerung. Das Riesenreich im Osten stellte dank der hohen Geburtenzahlen unablässig Nachschub für die Gefallenen an der Front zu Verfügung, die eigenen Verluste spielten für die russischen Offiziere eine untergeordnete Rolle, solange nur das militärische Ziel erreicht wurde.

Zu wenige Trainingskapazitäten

Viele Jahrzehnte später ist allerdings fraglich, wie sehr eine Massenmobilmachung der russischen Armee helfen würde. So gehen westliche Experten wie der im schottischen St. Andrews lehrende Militärhistoriker Phillips O‘Brien davon aus, dass Russland derzeit nicht über die Kapazitäten verfügt, um eine große Menge an militärisch unerfahren jungen Männer so auszubilden, dass sie auf dem Schlachtfeld effektiv eingesetzt werden können. Und selbst die Truppen, die eine halbwegs adäquate Ausbildung bekommen, dürften in keinem Fall rasch verfügbar sein. Laut der US-Denkfabrik Institute for the Study of War dauert es derzeit zwischen vier und sieben Monate, bis frisch eingerückte russische Wehrpflichtige so weit sind, dass sie ihren weiterführenden Dienst bei den ihnen zugewiesenen Einheiten antreten können.

Unklar ist zudem, womit all die neuen Soldaten ausgerüstet werden. So hat Russland schon jetzt enorme Verluste an Material erlitten - das niederländische Open-Source-Portal Orx, das alle Verluste fotografisch und geografisch dokumentiert, spricht etwa von 612 Panzern und 675 Schützenpanzern, die nicht mehr kampftauglich sind. Der Nachschub dürfte aber nicht zuletzt aufgrund der westlichen Sanktionen schwierig werden. Viele russische Rüstungsunternehmen sind bei Spezialteilen wie hochfesten Radlagern oder Elektronik-Komponenten auf westliche Zulieferer angewiesen, der größte russische Panzerhersteller Uralvagonzavod musste laut Medienberichten bereits vor einigen Wochen die Produktion zurückfahren, weil wichtige Teile fehlen.

Eine Generation ohne Kinder

Möglicherweise am schwersten dürfte aber wiegen, dass Russland heute in demografischer Hinsicht ein völlig anders Land ist als zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges oder der Sowjetunion und über die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für eine Massenmobilmachung verfügt. Denn der Bevölkerungsschwund, den Wladimir Putin selbst schon seit vielen Jahren als eines größten Probleme Russland skizziert, beginnt sich derzeit mit einer Wucht zu manifestieren, die auch für russische Verhältnisse ungewöhnlich ist: Laut der "Moscow Times" verzeichnete Russland mit einem Verlust von 997.000 Menschen zwischen Oktober 2020 und September 2021 den stärksten Bevölkerungsrückgang seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Zwar dürfte ein Gutteil des aktuellen Einbruchs auch auf die verheerenden Corona-Wellen in Russland zurückgehen, doch gleichzeitig sehen Demografen in den Zahlen auch schon die ersten Resultate der Chaos-Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die wirtschaftliche Unsicherheit hatte damals in Kombination mit Massenarbeitslosigkeit und dem weit verbreiteten Alkoholismus zu einem massiven Einbruch bei den Geburten geführt, zwischen 1993 und 2007 lagt die Reproduktionszahl in Russland laut Weltbank-Daten teils deutlich unter 1,5. Die Folgen dieser Entwicklung sind heute vor allem in der Gruppe spürbar, die im Alter von 18 bis 27 Jahren zum Wehrdienst muss. So gibt es 12,5 Millionen Russen zwischen 30 und 34 Jahren, die in den 1990er geborenen 20- bis 24-Jährigen sind dagegen nur 6,5 Millionen.

Für die russische Führung hätte eine Massenmobilisierung also nicht nur einen zweifelhaften militärischen Effekt. Eine solche Maßnahme würde wohl auch ein erhebliches politisches Risiko mit sich bringen. Denn ob russische Familien heute bereit sind, ihr oft einziges Kind einem Feldzug zu opfern, der anders als der Zweite Weltkrieg kein Verteidigungs- sondern ein Angriffskrieg ist, ist ungewiss. Zumindest offiziell wiegelt die russische Führung auch noch ab. Eine Massenmobilisierung sei Unsinn, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow Mitte Woche. Wenige Tage von der russischen Invasion hatte Peskow allerdings auch die Spekulation über russische Einmarschpläne in der Ukraine als "Hysterie" bezeichnet.