Erstmals sollten Straßenbahn und Bus für alle zugänglich sein. Auf den teuren Bau einer U-Bahn verzichtete man - auf die Förderung des Fahrradverkehrs ebenso.
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Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die Wiener Sozialdemokraten eine hungernde Metropole mit erschöpftem Gemeindebudget und massiver sozialer Not. Die neue Stadtverwaltung konzentrierte sich daher mit ihrem Reformprogramm auf die Bereiche Wohnen und Wohlfahrt. Die an sich großzügige, für eine weiterwachsende Großstadt angelegte urbane Infrastruktur aus der Gründerzeit war speziell bei den Verkehrsanlagen durch Überbeanspruchung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch sah sich die sozialistisch regierte Stadt bald mit einem erneut ansteigenden und veränderten Mobilitätsbedürfnis konfrontiert.
Die moderne Großstadt entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts in Wechselwirkung mit Transport und Personenmobilität. Neue Verkehrsmittel ermöglichten und beschleunigten die Erweiterung und Entmischung der Stadt. Die zurückzulegenden Distanzen wurden immer länger, die Fortbewegung der StadtbewohnerInnen verlagerte sich nach und nach vom Gehen zum Fahren. Eine wesentliche Triebkraft dieser Entwicklung bestand in den vorherrschenden ökonomischen Strukturen. So war nicht allein die Mobilität von Waren, sondern auch jene von Personen eine unerlässliche Voraussetzung kapitalistischer Produktion. Auf einen Nenner gebracht: Was wirtschaftliche Rationalität voneinander trennte - Arbeitsstätten vom Wohnen, Produktion vom Konsum -, das musste der Verkehr wieder verbinden.
Diesen Prozess einer zunehmenden Entflechtung der Lebensbereiche und einer Zonierung der Stadt stellte man im Roten Wien nur vereinzelt in Frage. In verantwortlichen Planungskreisen war jene Sichtweise vorherrschend, wonach die stetig wachsende Nachfrage nach Verkehrsdienstleistungen im Grunde ein normales und unabwendbares Phänomen sei - und es gelte, dieses Bedürfnis schlichtweg zu befriedigen. In dieser Hinsicht erwies sich also die damalige Verkehrspolitik eher als reaktiv. In anderen Bereichen gelang es trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage und dank einer aktiven Politik, durchaus eigene Akzente zu setzen.
Neue Tram-Linien
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die elektrische Tramway bei Weitem das wichtigste Verkehrsmittel Wiens, in der Zwischenkriegszeit verfestigte sich ihre zentrale Rolle weiter. Eine Streckenerweiterung erfolgte zwar nur geringfügig. So entstanden etwa zwischen Friedrich-Engels-Platz und Stadlauer Brücke, wo es zahlreiche Fabriken und neue Gemeindebauten gab, neue Linien. Der an sich schon recht große Wagenpark wurde 1927 bis 1929 durch die Neuanschaffung der legendären und langlebigen Type M - wenn auch im internationalen Vergleich moderat - modernisiert. Die noch vorhandenen Dampftramwaylinien wurden elektrifiziert.
Radikal neu war die Umgestaltung des gesamten Tarifsystems der öffentlichen Verkehrsmittel nach sozialen Aspekten. Vor dem Ersten Weltkrieg konnten sich zahlreiche ArbeiterInnen gerade noch die verbilligten Frühtageskarten leisten, traten aber abends den oft kilometerlangen Heimweg von ihrer Arbeitsstätte zu Fuß an. Die Fahrpreise sollten von nun an so gering wie möglich sein. Dafür sorgte der neue budgetäre Grundsatz, wonach lediglich die Deckung von Selbstkosten angestrebt war.
Tarife & Fahrleistung
Die Verkehrsbetriebe hatten im Gegensatz zur christlichsozialen Ära keine Gewinne mehr für die Gemeinde zu erwirtschaften. Bereits im Jahr 1921 hat man einen Einheitsfahrpreis festgelegt, der anstelle des Zonentarifs und unabhängig von der Entfernung eine Fahrt mit den Öffis ermöglichte. Dies kam vor allem den Berufstätigen zugute. Darüber hinaus wurden ab 1922 wichtige Sondertarife wie Wochenkarten oder Schüler- und Arbeitslosenfahrscheine eingeführt.
Wesentlicher Teil einer Attraktivierung des öffentlichen Verkehrs waren auch die massive Ausweitung der Fahrleistung und die dadurch erzielten besseren Intervalle. Im Jahr 1928 befand sich die Wiener Straßenbahn auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit, zugleich zeigten sich bereits die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Vizebürgermeister Georg Emmerling warb um Verständnis und bemühte dabei einen hehren Anspruch der Stadt: "Beides kann man nicht verlangen: einen klaglosen Betrieb mit dem billigsten Tarif der Welt!" Tatsächlich schrieben die Verkehrsbetriebe bereits ab 1924 rote Zahlen und mussten die Fahrpreise immer wieder erhöhen.
Indes steigerte sich die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel mit rund 350 Fahrten pro StadtbewohnerIn bis 1928 auf das Doppelte des letzten Vorkriegsjahres. Beachtenswert ist dabei der unerwartete, sprunghafte Anstieg ab 1922/23. Erklärt wurde dies vor allem mit der günstigen Tarifpolitik, aber auch mit dem neuen (bundesweit geltenden) Mieterschutz. Berufstätige mussten oder wollten ihre Wohnung nicht mehr mit dem Arbeitsplatz wechseln und nahmen dafür längere Fahrten zum Arbeitsplatz in Kauf.
Massenverkehr
Auch die großzügig angeordneten und weitläufigen kommunalen Wohnhöfe trugen zur Verkehrszunahme in Wien bei. Die meisten großen Gemeindebauten entstanden ja entlang oder im unmittelbaren Einzugsbereich von Straßenbahn- oder Stadtbahnlinien. Massenverkehr wurde in Wien im positiven wie negativen Sinn des Wortes Realität. Dabei kann Verkehrsmobilität ebenso Freiheit wie Zwang bedeuten: So wird "der Großstädter immer mehr zum Sklaven der öffentlichen Verkehrsmittel", meinte etwa Stadtbaudirektor Franz Musil. Doch bereits 1929 brachen die Fahrgastzahlen ein. Eine neuerliche Tariferhöhung und die Weltwirtschaftskrise machten sich bemerkbar.
Die Elektrische, wie die Bim damals im Volksmund hieß, spielte aber auch in der politischen Symbolik eine wichtige Rolle und wurde zur Trägerin einer neuen Tradition. An jedem 1. Mai demonstrierten die Straßenbahner ihre Macht: Der öffentliche Verkehr stand bis Mittag still, und die ersten Züge verließen mit Kränzen und Fahnen festlich geschmückt die Remisen.
Die drohende Überlastung der Straßenbahnen veranlasste 1923 die Gemeinde, die um die Jahrhundertwende errichtete und zwischenzeitlich eingestellte, dampfbetriebene Stadtbahn zu revitalisieren. So pachtete man vom Staat die Anlage auf der Wiental-, Donaukanal- und Gürtellinie für 30 Jahre. Allerdings bestand für die Österreichischen Bundesbahnen eine Kündigungsmöglichkeit schon nach zehn Jahren. Es handelte sich also zunächst um ein "Provisorium".
Das war neben den Kosten mit ein Grund, warum man sich nicht für eine Schnellbahn, sondern für einen gemeinsamen neuen Wagenpark mit der Tramway entschied: Dieser sollte hier wie dort verwendet werden können. So wurde eine Wagentype bestellt, die im Wesentlichen der Straßenbahntype M entsprach. Das machte direkte Übergangslinien möglich, die zwischen Stadtbahn- und Straßenbahngleis wechselten, wie die Hybridlinie 18G. Ihre Abzweigung ist bei der Station Gumpendorfer Straße am Äußeren Gürtel heute noch zu sehen.
Entscheidend war auch die Integration der Stadtbahn ins Tarifsystem der Straßenbahn. Die 1925 neu eröffnete und elektrifizierte Stadtbahn beförderte bereits ein Jahr später mehr als doppelt so viele Fahrgäste als in den letzten Vorkriegsjahren. Sie wurde erst jetzt zu einem tatsächlichen Massenverkehrsmittel. Die neue Wiener Stadtbahn, eigentlich ein straßenbahnmäßiger und elektrischer Betrieb auf einer kreuzungsfreien Eisenbahnstrecke, kann als Innovation gelten und gehört zu den ersten Schnellstraßenbahn-Systemen. Diese ungewöhnliche, gleichsam aus der Not geborene Maßnahme war in Fachkreisen überaus umstritten. Manche sahen in ihr eine voreilige "Zwitterlösung" und die "Herabdrückung einer Vollbahn zur Kleinbahn". Die straßenbahnähnlichen Garnituren wiesen eine geringere Wagenbreite und damit weniger Kapazität auf. Durch die Abtrennung von den Anschlussstrecken der Fernbahnen in Hütteldorf und Heiligenstadt entstand zudem ein unpraktischer Umsteigezwang beim Ausflugsverkehr.
Trotz der Elektrifizierung und Attraktivierung der Stadtbahn blieben die Straßenbahnen auf den Hauptverkehrslinien überlastet. Die Notwendigkeit einer Wiener U-Bahn war für die Stadtverantwortlichen unumstritten und wiederholt ein Thema - trotz stagnierender Bevölkerungszahlen und gemäß einer nachholenden Modernisierung. Kurzfristig sprachen jedoch die wirtschaftliche Situation und soziale Überlegungen dagegen. Man ging davon aus, dass die Errichtung eines Untergrundbahnnetzes nur um den Preis massiver Tariferhöhungen möglich wäre, die man aber der Bevölkerung nicht zumuten konnte oder wollte.
Dichte und Tempo des Straßenverkehrs nahmen damals merkbar zu. Neben der erhöhten Frequenz der Straßenbahn trugen mehr und mehr private Automobile, Lastkraftwagen, Motorräder und Fahrräder zum Verkehrsgeschehen bei. So war die augenfälligste Veränderung auf Wiener Straßen der 1920er Jahre vermutlich die zunehmende Motorisierung. Pferde und Pferdefuhrwerke begannen aus dem Straßenbild zu verschwinden. Dieser Strukturwandel betraf auch die städtischen Betriebe von der Müllabfuhr bis zum Sanitätsdienst, deren Fuhrwesen damals auf Lastautos umgestellt wurde. Zur dominierenden Straßenbahn gesellten sich auch einige Autobuslinien, vor allem in der Innenstadt und den Außenbezirken.
Die 1921 eingeführte Kraftwagenabgabe, die zu den neuen "Luxussteuern" in Wien zählte und zweckgewidmet zur Erhaltung der Straßen verwendet wurde, wirkte sich jedoch auf die Zahl der Pkw bremsend aus: So verzeichnete Wien im österreichischen Vergleich geringere Zuwachsraten. Die Motorisierung in dieser Zeit wurde auch hierzulande ganz wesentlich von Krafträdern getragen: In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre machten Motorräder fast die Hälfte aller Kraftfahrzeuge aus.
Verkehrsregelungen
Die probatesten Mittel im Umgang mit dem zunehmenden Verkehr auf den Straßen sah die Stadtverwaltung kurzfristig im Ausbau der Verkehrsregelungen, mittelfristig aber auch in Straßenregulierungen und langfristig in der Errichtung von U-Bahn-Linien. Im Laufe der 1920er Jahre hat man zahlreiche neue, heute längst gewohnte Formen der Verkehrsorganisation im Straßenraum eingeführt: gekennzeichnete Fußgängerübergänge an größeren Kreuzungen, Kreisverkehr und Einbahnstraßen, Verkehrsposten, Lichtsignale bzw. Ampeln (ab 1928 auf der Opernkreuzung).
Weiters wurden Verkehrsflächen vergrößert und freigehalten, um Parkplätze zu schaffen (indem man etwa auf der Freyung den traditionellen Markt verlegte). In dieser Zeit setzte auch die Verkehrserziehung ein. Dennoch verdoppelte sich die Zahl der Verletzten im Straßenverkehr bis Ende der Zwanzigerjahre gegenüber der Vorkriegszeit. Die Schuld suchte man oft bei den schwächsten VerkehrsteilnehmerInnen und tadelte die FußgängerInnen für ihre Unvorsichtigkeit und Unfähigkeit, sich den neuen Straßenverhältnissen anzupassen.
Kraftrad und Kraftwagen symbolisierten Fortschritt und Modernität. Die Individualmotorisierung setzte auch in der Arbeiterschaft allmählich ein: Zu Zeiten eines kurzen Wirtschaftsaufschwungs in den Jahren 1923 bis 1928 konnten sich manche von ihnen bereits die Anschaffung eines Motorrads leisten. In der städtischen Verkehrsplanung lässt sich angesichts der erwarteten Zunahme des Autoverkehrs (einschließlich der Lastwagen) eine beginnende Wahrnehmung der Straßenbahn und der FußgängerInnen als Verkehrshindernis konstatieren. Die angedachten Untergrundbahnen hätten nicht zuletzt Raum für Automobile an der Oberfläche schaffen sollen.
Im Straßenbau setzte man zwar eher erhaltende als erweiternde Maßnahmen, aber die Motorisierungswelle erforderte immer mehr Ausgaben für die Straßenpflege. Neben Neu- und Umpflasterungen wurden immerhin über 60 Kilometer neue Straßen geschaffen. Anfang 1933 wollte die Stadt Wien sogar eine leistungsfähige Autostraße auf den Kahlenberg bauen, vorgeblich aus beschäftigungspolitischen Motiven, die schlechte Finanzlage stoppte jedoch das Vorhaben. So konnte die größer angelegte Höhenstraße später zum Prestigeprojekt im Austrofaschismus werden.
Das zahlenmäßig dominierende Individualverkehrsmittel dieser Zeit war jedenfalls das Veloziped. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte eine Verbilligungswelle das Fahrrad für weitere Kreise der Arbeiterschaft und für kleine Angestellte erschwinglich gemacht. Sein Beitrag zur Mobilität in der Stadt war somit durchaus relevant. Zur selben Zeit entwickelte sich der sprunghaft angestiegene Lkw-Verkehr mehr und mehr zur Gefährdung für RadfahrerInnen; AutofahrerInnen wiederum empfanden die Radfahrenden zunehmend als Hindernis. Die Forderung nach dem Bau von Radwegen wurde immer lauter. Der Radfahrerbund der Arbeiter empfahl zudem das Fahrrad als Zubringer zu den Straßenbahnen und forderte entsprechende Infrastrukturmaßnahmen. Er sah in diesem Verkehrsmittel ein "Stiefkind der Behörden" - und verwies dabei immer wieder auf das positive Beispiel deutscher Städte.
Doch ungeachtet der Tatsache, dass die Straßenbahnen notorisch überlastet waren und an einen U-Bahn-Bau vorläufig nicht zu denken war, dachte man seitens der Stadt- und Verkehrsplanung in Wien nicht an die Förderung des Fahrradverkehrs. So unterblieb der Ausbau der Radinfrastruktur im Roten Wien völlig.
Die wenigen neuen Radwegebauten der Zwischenkriegszeit entstanden erst Mitte der 1930er Jahre im "Ständestaat"-Regime. Während der Verzicht auf eine U-Bahn stets mit Hinweis auf die Kosten gerechtfertigt wurde, verlor man praktisch kein Wort über (den fehlenden) Radwegebau. Damit war eine langjährige Tradition der politischen und planerischen Ignoranz dieses Verkehrsmittels in Wien begründet worden, die möglicherweise bis heute nachwirkt.
"Rote Kavallerie"
Gleichzeitig besaß das Veloziped für die Arbeiterkultur und die Sozialdemokratie paradoxerweise eine große symbolische Bedeutung. Arbeiter-RadfahrerInnen hießen ja einst die "Rote Kavallerie" und durften auch im Roten Wien bei feierlichen Aufmärschen, so etwa vor dem Rathaus, nicht fehlen. Jedenfalls setzte in der wichtigsten Interessenvertretung der RadfahrerInnen die ideologische Öffnung gegenüber MotorfahrerInnen bereits im Laufe der 1920er Jahre ein. Dieser Wandel schlug sich auch in der Namensgebung nieder: Aus dem Arbeiter-Radfahrer-Bund wurde 1932 der Arbeiter-Rad- und Kraftfahrerbund Österreichs (ARBÖ).
Die sozialdemokratische Stadt reagierte auf die Veränderungen urbaner Mobilität nach dem Ersten Weltkrieg durchwegs pragmatisch, teilweise aber auch ideologiegeleitet. Dabei zeigte sich: Im Verkehrsbereich bevorzugte man ebenfalls zentralistische Organisationsstrukturen und kollektive Mobilitätsformen. Gleichzeitig wies die Verkehrsplanung im Roten Wien mit ihrer beginnenden Zuwendung zum motorisierten Individualverkehr bereits in Richtung einer späteren, an Straßenbau und Automobilität orientierten Verkehrspolitik - und blieb damit letztlich widersprüchlich. Dennoch zeigte das Beispiel der Kraftwagenabgabe, wiewohl diese finanz- und nicht verkehrspolitisch motiviert war, bemerkenswerte Potenziale auf: Selbst angesichts allgemeiner, scheinbar unaufhaltsamer Trends war es auf lokaler Ebene möglich, ins Geschehen lenkend einzugreifen.
Sándor Békési arbeitet als Historiker und Kurator im Wien Museum. Der Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags im Katalog zur Ausstellung "Das Rote Wien. 1919– 1934" des Wien Museums MUSA (bis 19. Jänner 2020).