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"Moderne Form von Sklaverei"

Von Michael Ortner

Wirtschaft

Die Arbeitsbedingungen bei Foxconn in China sind auch sieben Jahre nach einer Suizidwelle noch unerträglich.


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Peking/Wien. In den Augen von Foxconn war Tian Yu nur eine Nummer. Sie lautete F9347140. Yu erhielt sie am 8. Februar 2010, als sie sich im Foxconn Recruitment Center im chinesischen Shenzhen als Arbeiterin für das Fließband registrierte. In der Hoffnung auf ein besseres Leben und mehr Geld verließ die 17-jährige ihre Heimat, eine arme, ländliche Region. Sie reihte sich ein in eine Armee von 400.000 Arbeitern, um im Fabrikkomplex Longhua iPhones, iPads und andere Elektronikgeräte zusammenzuschrauben.

Yus Aufgabe bestand darin, das Glas der Displays auf Kratzer zu überprüfen. Jeder Handgriff war streng getaktet. Arbeitern, die eine bestimmte Stückzahl in einer vorgegebenen Zeit nicht erfüllten, wurde Geld vom Lohn abgezogen. Oft blieb es jedoch nicht dabei. Manche wurden zudem vor der gesamten Arbeiterschaft schikaniert: "Es ist keine Zeit für Verzögerungen. Wenn du zu langsam bist, kommt ein Manager und schreit dich zusammen", sagt die chinesische Soziologin Jenny Chan im Interview mit der "Wiener Zeitung". Plakate mit Propaganda-Leitsätzen wie "Erreiche deine Ziele, sonst geht die Sonne nicht mehr auf" oder "Der Teufel liegt im Detail" hängen für alle Arbeiter sichtbar in den Werkshallen. Jeder Tag begann mit einer Art militärischem Morgenappell, bei dem sich die Arbeiter in Reih’ und Glied aufstellen mussten. "Wie geht es euch?", schrien die Vorarbeiter unisono. "Gut, sehr gut, sehr, sehr gut", mussten die Arbeiter im Chor antworten.

Essen, schlafen, arbeiten

Tian Yu beschrieb ihre Arbeit so: "Ich bin um 6.30 Uhr aufgestanden, hatte ein unbezahltes Morgen-Meeting um 7.20 Uhr, begann um 7.40 Uhr die Arbeit, ließ das Abendessen meist zugunsten von Überstunden aus und arbeitete bis 19.40 Uhr." Pausen blieben die Ausnahme: "Ich musste meinen Fließband-Leiter um Erlaubnis fragen, meinen Sitz zu verlassen." Yu saß zwölf Stunden am Tag am Fließband, 13 Tage in Folge. Danach hatte sie einen Tag frei. Weniger, um sich auszuruhen, sondern vielmehr, um sich auf die Nachtschicht umzustellen. Von der kleinteiligen Arbeit schmerzten ihr nach wenigen Tagen die Augen. Essen, schlafen und arbeiten waren ab jetzt ihr einziger Lebensinhalt, der sich zur Gänze auf dem "Campus" von Foxconn abspielte. So nennt der Konzern seine gigantischen Fabriksgelände wie dem in Shenzhen. Von Büchereien über Schwimmbäder bis zu Restaurants und Hochzeitsshops fehlt es den Arbeitern auf den ersten Blick an nichts. Es fehlt ihnen aber schlicht die Zeit, diese Angebote zu nutzen. Freundschaften werden selten geschlossen. Tian Yu kannte keine ihrer sieben Zimmergenossinnen. "Eile deinen schönsten Träumen hinterher, verfolge ein herrliches Leben." Dieser Satz prangte auf dem Handbuch, das ihr am ersten Arbeitstag bei Foxconn mitgegeben wurde. Yu beschloss nach nur 37 Tagen, ihren Traum zu beenden. Am 17. März 2010, um acht Uhr morgens, sprang Tian Yu vom vierten Stock des Schlafsaal-Gebäudes, um sich das Leben zu nehmen. Doch sie überlebte den Sprung, lag zwölf Tage im Koma und ist seither halb gelähmt. Heute sitzt sie im Rollstuhl.

"Suizid kann als extreme Form von Arbeitsprotest gesehen werden", sagt die Soziologin Chan, die im Rahmen ihrer Dissertation sechs Jahre lang die Arbeitsbedingungen von chinesischen Foxconn-Mitarbeitern untersucht hat. Ihre Forschung begann sie im Jahr 2010. Damals häuften sich bei dem Apple-Zulieferer Suizide von Mitarbeitern. 18 junge Arbeiter zwischen 17 und 25 Jahren begingen Selbstmord. Vier überlebten, eine davon ist Tian Yu. "Dying for an iPhone" lautet deshalb der provokante Titel von Chans Buch, das heuer erscheinen soll. Gemeinsam mit ihrem Team führte die Soziologin viele hunderte Interviews mit den Arbeitern, wertete ihre Gehaltszettel aus und sammelte Informationen aus Gedichten, Briefen an ihre Familien und Blog-Einträgen. Es wurde sogar undercover recherchiert, um möglichst nah an den Arbeitern zu sein. Auch Chan besuchte drei Fabriken mit einer geliehenen Karte und Uniform. "Ich gab mich als Mitarbeiterin aus, um Zugang zum Campus zu erhalten."

Polieren ohne Mundschutz

So konnte sie die fragwürdigen Arbeitsbedingungen aus erster Hand dokumentieren. Damit etwa der stilisierte Apfel auf den Geräten glänzt, müssen ihn die Arbeiter am Fließband abschleifen. Oft geschieht dies ohne Mundschutz. Dabei inhalieren die Arbeiter neben feinem Aluminium-Staub giftige Chemikalien beim Polieren und in der Metallverarbeitung. Chan erzählt auch von Arbeitern, die aufgrund von Erschöpfung fast im Stehen einschlafen und auf das Essen verzichten, um Überstunden anzuhäufen.

Denn bezahlt werden die meisten Arbeiter unter dem chinesischen Mindestlohn. Zu Beginn von Chans Recherchen zahlte Foxconn rund 900 Yuan pro Monat, umgerechnet rund 122 Euro. Noch einmal so viel verdienten sich viele durch Überstunden hinzu. Geld für die Miete und das Essen wird den Arbeitern davon aber noch abgezogen. "Über die Jahre hat Foxconn den Mindestlohn angehoben. Heute zahlen sie 2030 Yuan (rund 275 Euro), zum Teil auch 3000 Yuan, abhängig von der Zahl der Überstunden. Die Erhöhung hatte aber ihren "Preis": "Früher mussten die Arbeiter etwa 500 Stück pro Stunde zusammenbauen, jetzt sind es 550 bis 600 Stück", so Chan.

Eine funktionierende Gewerkschaft, die sich für die Rechte der hunderttausenden Mitarbeiter einsetzt, gibt es bis heute nicht. Zwar wurde bereits 2007 eine "Mitarbeiter-Vertretung" bei Foxconn gegründet, doch CEO Terry Ghou setzte seine persönliche Assistentin als Vorsitzende ein. Die "Gewerkschaft" wurde ein Sprachrohr des Konzerns.

Schüler machen "Praktika"

"Es ist bedenklich, dass eine Gewerkschaft fehlt. Die Arbeiter können uns nicht direkt sagen, was ihre Anliegen sind. Es gibt keinen Mechanismus, um ihre Rechte zu schützen", sagt Chan.

Noch weniger Rechte als die Arbeiter haben die Schüler, die ein Praktikum bei Foxconn machen. "Foxconn braucht eine Vielzahl von billigen Arbeitskräften, um mit der Produktion nachzukommen", erzählt Chan. Die lokalen Regierungen verlangen daher von den Schulen, ihre Schüler für Praktika zu den Unternehmen zu schicken. Andernfalls droht ihnen ein Subventionsstopp.

Statt ihre Ferien zu genießen, arbeiten mehrere tausend Schüler pro Sommer in den Fabriken von Foxconn. 2010 sollen es nach konzerneigenen Angaben bis zu 150.000 Schüler gewesen sein - 15 Prozent aller Foxconn-Arbeiter in China. Die Schüler sind zwischen 16 und 17 Jahre alt, manche Lehrer würden sogar noch jüngere Schüler zu den verpflichtenden Praktika schicken, wo sie in Zehner- und sogar Zwölferzimmern gemeinsam schlafen. Die Schüler stehen wie die Arbeiter auch am Fließband, müssen Nachtschichten übernehmen - bei geringerem Schutz. Sie werden zwar bezahlt, sind aber weder versichert, noch wird ihnen die Arbeit für die Pension angerechnet. Drei Monate dauern diese Praktika mindestens, manchmal sogar bis zu einem Jahr. "Falls ein Schüler sein Praktikum abbricht, bekommt er von seiner Schule kein Abschlusszeugnis", sagt Chan, "das ist eine moderne Form der Sklaverei." Die Soziologin konfrontierte sowohl Foxconn als auch Apple mit den Vorwürfen. In einem Antwortschreiben von Foxconn heißt es etwa, dass "Schüler ihr Praktikum jederzeit beenden könnten und sie keine Nachtschichten und Überstunden machen dürfen". Der Konzern führt an, die Löhne gehoben zu haben und sich um eine "sicheres und befriedigendes Arbeitsumfeld" zu kümmern. Auch Apple sichert Chan "sichere, ethisch vertretbaren Arbeitsbedingungen" in der Lieferkette zu.

Nur ein Lippenbekenntnis, wie es scheint. Auf ein iPhone zu verzichten, sei laut Chan nicht die Lösung. Die westliche Gesellschaft sei Teil einer globalen Ökonomie und könne mitentscheiden, wie Produktionsprozesse gestaltet sind: Druck auf die Konzerne auszuüben sei das vorrangige Ziel.

Zur Person

Jenny Chan ist Soziologin an der Polytechnic University in Hongkong. Sie untersuchte mehr als sechs Jahre die Arbeitsbedingungen beim Apple-Zulieferer Foxconn. Chan war auf Einladung des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik zu Gast in Wien. Ihr Buch "Dying for an iPhone" erscheint 2017 im Verlag Rowman & Littlefield.

Wissen: Foxconn

Foxconn ist ein Konzern der Superlative. Er gilt als weltweit größter Hersteller von Elektronikartikeln und beschäftigt mehr als eine Million Mitarbeiter. Alleine in China arbeiten Hunderttausende in den mehr als 30 Produktionsstätten. Standorte wie die Sonderwirtschaftszone Shenzhen gleichen mittleren Großstädten: Mehr als 400.000 Menschen produzieren dort Elektronikartikel. Eine Stadt trägt sogar den Namen "iPad City".

Foxconn wurde 1974 von Terry Ghou gegründet und ist der größte Arbeitgeber im Reich der Mitte. Vergangenes Jahr setzte der Konzern 129 Milliarden Euro um. Mehr als die Hälfte davon mit der Herstellung von iPhones und iPads. Apple gilt als wichtigster Kunde. Dafür verlangt der Konzern mit dem Apfel-Logo eine schnelle und vor allem billige Produktion seiner durchdesignten Geräte. Foxconn wälzt diesen Druck auf tausende Mitarbeiter ab. Die Folge jeder neuen iPhone-Generation: In immer kürzeren Zeitabständen sollen noch mehr Geräte hergestellt werden, um die Nachfrage von Apple zu decken.

Nachfrage, die auch in Österreich gedeckt werden will. 1,2 Millionen iPhones werden hierzulande benutzt, so eine Schätzung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Integral. Laut dem aktuellen Austrian Internet Monitor für das vierte Quartal 2016 verwenden 16 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren ein iPhone.