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Möglichkeitsraum Mittelmeer

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Von "Atlantropa" bis zu "Passage" reichen die mediterranen Utopien - ein Überblick unter Einbeziehung von Albert Camus.


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Der Münchner Architekt, Bohèmien und Utopist Herman Sörgel (1885-1952) wollte mit seinem Projekt "Atlantropa" Europa mit Afrika zu einem Kontinent verschmelzen.
© Archiv

In den 1920er Jahren entwickelte der Münchner Architekt Herman Sörgel einen ebenso kühnen wie abenteuerlichen Plan: Er wollte den Wasserspiegel des Mittelmeers absenken und Afrika und Europa zu einem neuen Kontinent verschmelzen: Atlantropa. Sörgel plante, die Straße von Gibraltar mit einem riesigen Staudamm zuzumauern. Ohne den Zufluss des Atlantiks könnte der Meerespegel um mehrere hundert Meter gesenkt werden. Wie in einer Badewanne würde man den Stöpsel ziehen und das Wasser aus dem Bassin ablassen. Über eine halbe Million Quadratkilometer Land hätten so gewonnen werden sollen - eine Fläche so groß wie Frankreich und Belgien. Hafenstädte wie Marseille oder Genua wären trockengelegt worden, die schroffen Felsen Sardiniens zu einer sanften Hügellandschaft mutiert, der Bosporus zu einem Tümpel geschrumpft. Sörgel hatte die Vision, über eine Brücke von Sizilien nach Afrika zu fahren. Der Architekt wollte keine Städte, sondern Kontinente bauen.

"Ein Meer versinkt"

Es braucht nicht viel geografisches oder umwelttechnisches Verständnis, um das Projekt "Atlantropa" als größenwahnsinnig zu qualifizieren, als Hybris, als großtechnische Verirrung. Es verwundert wenig, dass die nationalsozialistische Propaganda, die von einem irredentistischen Phantasma eines Volks ohne Raum besessen war, diesen Topos aufgriff und einen Propagandafilm mit dem Titel "Ein Meer versinkt" drehen ließ. Die Historiker sprechen Sörgel indes vom Vorwurf der Nazi-Kollaboration frei: Er sei ein Pazifist gewesen, ein Utopist, der Grenzen auslotete.

Der Architekt war eine Figur seiner Zeit, der Bohème. Im Münchener Stadtteil Schwabing, wo damals noch mehr Geist als Geld regierte, verkehrte der dinstinguierte Herr mit dem Monokel mit anderen Weltverbesserern und Künstlern. Es war die Zeit, als Ideen wie Schmugglerware gehandelt wurden.

Sörgel war fasziniert von H. G. Wells’ Monumentalwerk "The Outline of History", worin er das Mittelmeer, bevor es geflutet wurde, als ein großes Tal ("lost Mediterranean Valley") beschreibt. Mit dem zeitlichen Abstand von fast 100 Jahren wirkt Sörgels ambitionierter Weltenplan heute, in einer Welt der Antiutopie und Risikovermeidung, vermessen, wie eine Halluzination.

Afrika und Europa trennen heute nicht nur Welten, sondern auch Mauern. Europa sichert seine Außengrenze mit immer festeren Zäunen und Mauern, Boote patrouillieren im Mittelmeer, um Flüchtlinge abzufangen und zurück in die Herkunftsländer zu schicken. Das Mare Nostrum, von dem die alten Römer einst stolz sprachen, ist kein Lebensraum, sondern eine Todeszone: Jährlich ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer auf ihrer Flucht nach Europa. Wer heute auf die Idee käme, eine Brücke von Lampedusa ans italienische Festland zu bauen oder die Küstenstreifen durch ein Absenken des Meeresspiegels künstlich zu vergrößern, könnte seine politischen Ambitionen an den Nagel hängen.

Trotzdem ist die Idee von Mauern und Grenzzäunen, mag sie von Populisten auch noch so oft als Bollwerk und Breitbandtherapeutikum gegen die "Flüchtlingswelle" (als wäre dies eine Naturkatastrophe!) beschworen werden, in Zeiten der Globalisierung anachronistisch. Wurden nach dem "Fall der Mauer" nicht das "Ende der Geschichte" (Francis Fuku- yama) und der Siegeszug der liberalen Demokratie proklamiert? Und wenn man jetzt wieder Mauern errichtet - dreht man damit die Geschichte nicht zurück? Zementiert man damit nicht einen Geschichtsrevisionismus?

Je mehr man die beiden Lösungsansätze - totale Abschottung hier, Fusion zweier Kontinente dort - nebeneinander legt, desto visionärer wirkt die Idee einer geografischen Unierung - und desto gestriger die Idee der Abschottung.

Plattformen im Meer

Der französische Architekt Axel de Stampa hat 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, ein interessantes Projekt ("Passage") vorgeschlagen: Durch die Installation von Plattformen im Mittelmeer sollten die Grenzen überwunden und Kontinente miteinander verbunden werden. Bei den Plattformen handelt es sich um keine schwimmenden Inseln, sondern um fest im Meeresboden verankerte Säulenstrukturen, die zwischen dem afrikanischen und europäischen Kontinent errichtet werden. Die Flüchtenden könnten sich von Plattform zu Plattform bewegen; neue sicherere Fluchtrouten über die Meerenge von Gibraltar oder nach Sizilien entstünden. Der Entwurf aktualisiert Sörgels Utopie der Kontinentalverbindung - nicht durch eine Absenkung des Meeresspiegels, sondern durch künstliche Inseln.

Axel de Stampas Projekt "Passage": Durch die Installation von Plattformen im Mittelmeer sollen Grenzen überwunden und Kontinente verbunden werden.
© Abbildung: 1 Week 1 Project

Gleichwohl wäre "Passage" politisch und technisch niemals umsetzbar. Zu hoch wären die Kosten, zu groß die baulichen Herausforderungen und der Widerstand in der Bevölkerung. Dagegen wäre "Atlantropa" leichter
realisierbar gewesen: Die Abriegelung der dreizehn Kilometer breiten und 300 Meter tiefen Straße von Gibraltar stellt bautechnisch kein großes Problem dar. In Dubai werden künstliche Inseln aufgeschüttet, in Japan hektargroße Flughäfen in tektonisch sensiblen Zonen im Meer errichtet. Warum sollte man die Meerenge nicht mit Geröll, Sand und Schutt schließen können?

Allein, wer Utopien nach baulichen Maßstäben bewertet, schrumpft sie auf Normalmaß. Es handelt sich um ein Imaginär, um über die Sinnhaftigkeit und Absurdität von Grenzwällen und Befestigungsanlagen zu reflektieren. Europa war nie ein hermetischer Kosmos, sondern immer ein Kontinent in Bewegung.

Die Politik war schon einen Schritt weiter. Der ehemalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy verfolgte das Projekt der Mittelmeerunion, um mit Anrainerstaaten wie Algerien, Libyen, Ägypten, dem Libanon und Syrien den gemeinsamen Katas-trophenschutz, den Ausbau von Verkehrsverbindungen zwischen Häfen und Bahnstrecken und die Erstellung eines Solarenergie-Planes für das Mittelmeer voranzutreiben. Das Projekt war getragen von der Vision, den Seehandel der Antike wieder aufblühen zu lassen, eine Magistrale von Marseille (dem alten Massilia) bis Beirut zu errichten. Es gab sogar Diskussionen, Marokko in die Europäische Union aufzunehmen - das nordafrikanische Land stellte 1987 einen Beitrittsantrag. Heute ein unvorstellbarer Vorgang. In Brüssel diskutiert man nicht über die Aufnahme, sondern über Rückführungsabkommen für Flüchtlinge.

Mediterranisierung

Man muss das Projekt "Atlantropa" in seiner ganzen Ambivalenz betrachten. Es geht bei dem Vorhaben auch um die ökologischen Folgen. Mit der Realisierung dieser wahnwitzigen Idee hätte man das Zeitalter des Anthropozäns beschritten, jene Epoche der Erdgeschichte, in der der Mensch zum geologischen Faktor wird und es kaum noch eine externe Umwelt gibt. Die eigentliche Ironie der Geschichte ist, dass das Mittelmeer eben kein regulativer Raum ist, den man durch Inge-nieurskunst wie einen Wasserhahn zudrehen kann, sondern ein Raum, der sich im Klimawandel immer weiter ausdehnt: Die heißen Sommer und Verwüstungsprozesse auch nördlich der Alpen sind die ersten Anzeichen einer Mediterranisierung des Kontinents.

In der Bretagne erproben Winzer den Anbau von Weinreben, in Frankfurt gedeihen Pinien, Eukalyptus und sogar Oleander. Stadtethnologen beobachten schon länger eine "Mediterranisierung der Innenstädte": Bars und Cafés stellen Stühle auf die Straßen, Stadtstrände inszenieren mit Palmen und Sand ein mediterranes Lebensgefühl, Möbelhäuser werben mit mediterranem Interieur ("Wohnen wie in der Toskana"). Der Lebensraum des Mittelmeers kommt auch so zu uns, ohne dass man den Meeresspiegel absenken muss. In der Versüdlichung der Gesellschaft schwingt auch immer ein kulturalistisches Vorurteil des "dolce vita" mit, eines Lebenswandels, der eher dem Müßiggang als harter Arbeit frönt.

Der Beitrag von Camus

In der Euro- und Staatsschuldenkrise, auf deren Höhepunkt etwa die "Bild"-Zeitung gegen "die faulen Griechen" Stimmung machte, war von "mediterraner Schludrigkeit" die Rede. Die "Wirtschaftswoche" glaubte eine "mediterrane Mischung aus Wut und Orientierungslosigkeit" zu diagnostizieren, als ließen sich derlei Aufwallungen für ihren geografischen Ursprungsort typisieren. Der mediterrane Lebenswandel, den man allenfalls als folkloristisches Straßen-Schauspiel kultiviert, ist vor allem der teutonischen Ordnungsliebe suspekt. Kann es sein, dass eine kontinentale Lage kleingeistig macht?

Vielleicht sollte man das Mittelmeer als einen Möglichkeitsraum begreifen. Albert Camus, der die Sommertage am Meer in Algier als größtes Glück beschrieb und dessen Gedanken zeit seines Schaffens um das Mittelmeer kreisten, rief in seinem Essay "Der Mensch in der Revolte" (1951) zu einem "mittelmeerischen Denken" auf: "Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann erwacht die sonderbare Freude, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben wir uns fortan weigern."

Den "mittelmeerischen Geist" stellte Camus der "deutschen Ideologie" entgegen - ein Kampf zwischen der Orthodoxie des deutschen Sozialismus auf der einen und dem freiheitlichen Denken der Franzosen, Spanier und Italiener auf der anderen Seite. Reflektierte Freiheit gegen rationelle Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen die Kolonisierung der Massen, Maßhalten gegen Übermaß - das waren die Pole, die das Denken des französischen Existenzialisten prägten.

Es ist Zeit für eine mediterrane Utopie, ein neues Denken, das die Probleme unserer Zeit mit der geistigen Großzügigkeit und Gelassenheit sonnenverwöhnter Gemüter betrachtet. Eine Ideenlandschaft, welche den Topos der Völkerverständigung in die globalisierte Moderne überführt. Herman Sörgel starb 1952 an den Folgen eines Verkehrsunfalls, als er auf dem Weg zu einem Vortrag in München mit dem Fahrrad von einem Auto angefahren wurde. Eine bittere Ironie der Technikgeschichte. Mit Sörgels Unfalltod starb auch "Atlantropa".

Adrian Lobe, geboren 1988, schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.