Sie gehen nicht zur Schule, sie haben keine Freunde, sie spielen nicht mehr Fußball: | Syrische Flüchtlingskinder in Jordanien sind die Versorger ihrer Familien. Die Zahl der Kinderarbeiter wächst.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Mafraq/Marka. Morgens um halb sieben beginnt für Mohannad der Arbeitstag, er arbeitet in einem Haushaltswarengeschäft. Mohannad schleppt Kisten aus dem Lager und räumt Waren in die Regale, packt die Einkäufe der Kunden in Sackerln, putzt das Geschäft, kocht Kaffee für den Chef. Abends um halb acht kommt er nach Hause, isst etwas, dann schläft er vor dem Fernseher ein.
Mohannad ist knapp 13, ein syrischer Flüchtling in Mafraq, einer Stadt im Norden Jordaniens. Er hat drei jüngere Geschwister und einen Zwillingsbruder, vor zwei Jahren ist die Mutter mit ihren Kindern aus dem syrischen Homs ins Nachbarland Jordanien geflohen. Eine Flucht vor Krieg und Terror in ihrer Heimat, vom Vater der Kinder hat sie seitdem nichts gehört, vielleicht lebt er noch, vielleicht ist er tot.
"Muss meiner Familie helfen"
Nun ist Mohannad der Mann in der Familie. Schlaksig ist er, trägt Jeans und einen weiten Kapuzenpulli, hat Ringe unter den Augen. "Ich muss meiner Familie helfen", sagt er. "Wir brauchen Geld für die Miete, für Strom und auch für Essen. Wenn ich nicht arbeite, dann reicht es nicht zum Leben."
Es ist ein Samstag, auf Mafraqs schmalen Innenstadtstraßen drängeln hupende Autos, Männer feilschen vor Geschäften, Frauen schimpfen mit quengeligen Kindern. Es riecht nach frischem Brot, in einer kleinen Bäckerei holt ein junger Bursch goldbraune Fladen aus einem Steinofen. Hamdan heißt er, auch seine Familie stammt aus Homs, vor drei Jahren sind sie nach Jordanien geflohen.
Hamdan hat vier Geschwister, er ist der älteste Sohn. 14 Jahre alt, strahlendes Lachen mit Zahnlücke, seine Haare sind grau vom Mehlstaub. Morgens um sieben kommt Hamdan zur Arbeit. Er heizt den Holzofen, knetet und formt den Teig, legt die Teiglinge aufs Blech, schiebt die fertigen Brote herunter, bedient die Kunden, fegt die Backstube. Abends um neun geht er nach Hause. Seit zwei Jahren arbeitet er in der Bäckerei, sieben Tage die Woche. "Hamdan macht hier alles", sagt der Bäcker, sein Chef. "Er ist sehr jung, aber er ist fleißig und er lernt schnell."
Hauptverdiener ist das Kind
Hamdan und Mohannad sind zwei von tausenden syrischen Flüchtlingskindern in Jordanien, die nicht zur Schule gehen, sondern jeden Tag zur Arbeit. 2013 schätzte das jordanische Arbeitsministerium die Zahl der arbeitenden syrischen Kinder auf 30.000, mittlerweile sollen es 60.000 sein. Damit wäre in Jordanien jeder fünfte Syrien-Flüchtling unter 16 ein Kinderarbeiter.
Schon vor dem Krieg trugen Kinder in Syriens ärmeren Familien zum Lebensunterhalt bei, vor allem Söhne verdienten neben der Schule Geld. Doch das Leben als Flüchtling hat aus Kindern Erwachsene gemacht - Burschen wie Hamdan und Mohannad sind heute die Versorger ihrer Geschwister und Eltern. In fast jeder zweiten syrischen Flüchtlingsfamilie ist ein Kind der Hauptverdiener, berichtet die Internationale Arbeitsorganisation ILO. Die Jüngsten seien fünf Jahre alt, die meisten zwischen zwölf und 16.
Sie arbeiten überall. Verkaufen an Ampeln Blumen, kellnern und putzen in Cafés und Restaurants, sind Erntehelfer auf Farmen, Handlanger auf Baustellen, Schicht-Springer in Fabriken. Sie arbeiten Vollzeit. Zehn, zwölf Stunden am Tag; sechs, sieben Tage die Woche. Sie verdienen am wenigsten. Ein einfacher Arbeiter in Jordanien verdient etwa 15 Dinar pro Tag, ein illegal arbeitender Erwachsener bekommt für dieselbe Arbeit zwischen vier und zehn Dinar, ein Kind zwei bis fünf. Ein Dinar, JD genannt, entspricht einem Euro und 25 Cent.
Eigentlich ist Kinderarbeit in Jordanien verboten. Laut Gesetz müssen Beschäftigte mindestens 16 Jahre alt sein. Bei Jobs, die "Heranwachsende gefährden, übermäßig ermüden oder ihrer Gesundheit schaden", liegt das Mindestalter bei 18 Jahren. Die Kontrollen sind jedoch schwach, kritisiert die ILO. Zu wenig Personal, zu wenig Budget, begründet das jordanische Arbeitsministerium. Und was würden schärfere Kontrollen auch bringen? Letztlich brauchen die Flüchtlingsfamilien das Geld. Kinderarbeit ist daher kein Abschiebegrund. Stattdessen muss, wer Kinder beschäftigt, eine Geldstrafe zahlen - das immerhin bringt dann auch dem jordanischen Staat etwas ein.
Offiziell dürfen Flüchtlinge in Jordanien nicht arbeiten, Ausnahmen sind selten und Genehmigungen teuer. Erwachsene Männer bleiben meist zu Hause, Schwarzarbeit ist ihnen zu riskant. Auch Hamdans Vater, ein Elektriker, nimmt nur hin und wieder bei Bekannten einen Job an. Jede vierte syrische Flüchtlingsfamilie aber lebt ohne Ehemann und Vater, die Männer kämpfen in Syrien oder wurden getötet. Die Mütter arbeiten traditionell nicht außer Haus, außerdem fürchten sie Übergriffe, in Jordaniens konservativer Gesellschaft haben alleinstehende Frauen automatisch einen schlechten Ruf.
Arbeit zu Niedrigstlöhnen
Fallen die Erwachsenen als Ernährer der Familie aus, arbeiten die Kinder. Der Bäcker zahlt Hamdan vier Dinar pro Tag, Mohannad verdient im Haushaltswarengeschäft fünf Dinar. Beide Chefs beteuern, dass sie die Burschen beschäftigen, weil sie ihren Familien damit helfen wollen. Es sind Niedrigstlöhne, doch die Flüchtlinge brauchen das Geld. "Ohne das, was Mohannad verdient, wären wir verloren", sagt seine Mutter Sabah.
Die Flüchtlinge erhalten Lebensmittelbons aus einem Hilfsprogramm der Vereinten Nationen, 24 Dinar pro Person und Monat. Allerdings gelten die Gutscheine für Grundnahrungsmittel wie Linsen, Reis und Öl, nicht für frisches Gemüse, Fleisch und Babynahrung. Miete, Strom, Gas und Wasser müssen die Familien ohnehin selbst zahlen. Wegen des anhaltenden Zuzugs aus Syrien ziehen die Lebensmittelpreise an, Wohnungen sind knapp, die Mieten steigen. Mohannads Mutter zahlt 200 Dinar im Monat, Hamdans Eltern 170 Dinar - das Dreifache des vor der Syrien-Krise Üblichen.
Lokale und internationale Hilfsorganisationen bemühen sich, Flüchtlingsfamilien auch mit Kleidung, Medizin und Bargeld zu unterstützen. Aber die Hilfen reichen nicht, um alle zu versorgen. Fast 630.000 syrische Flüchtlinge hat das einst 6,5 Millionen Einwohner zählende und wirtschaftlich schwache Jordanien mittlerweile aufgenommen. Jede Woche werden es einige hundert mehr. Nur ein kleiner Teil lebt in einem der beiden UN-Flüchtlingslager, mehr als 80 Prozent der Menschen sind in Städten untergekommen. Im armen Ostteil der Hauptstadt Amman, vor allem aber im besonders unterentwickelten Norden Jordaniens nahe der syrischen Grenze, in Ramtha, Zarqa und Mafraq.
Für die Arbeitgeber dort sind Kinderarbeiter nicht nur billig. Sie sind auch flexibel einsetzbar. Wie Mohannad in Mafraq. Ein, zwei Mal pro Woche ruft ihn der Ladenbesitzer morgens an und sagt, dass er keine Arbeit für ihn hat. Dann baut Mohannad einen selbst gezimmerten Straßenstand auf, verkauft geröstete Nüsse, Salzmandeln, Zuckerzeug.
Kinder sind attraktive Arbeitskräfte, meint Salam Kanaan, Jordanien-Direktorin der unabhängigen Hilfsorganisation Care International. "Um ihren Familien zu helfen, akzeptieren Kinder alles. Sie versuchen nicht, bessere Löhne und Arbeitszeiten zu verhandeln, sie halten verbale und auch körperliche Gewalt aus. Kinder wehren sich nicht, wenn sie schlecht behandelt werden", erklärt Kanaan. Das sei für viele Arbeitgeber ein entscheidender Vorteil.
Ein effektives Mittel gegen Kinderarbeit wäre die Arbeitserlaubnis für erwachsene Flüchtlinge. Doch das hieße zugleich: Ihr dürft bleiben. Eine Botschaft, die Jordaniens Regierung scheut. Mit der Flüchtlingswelle aus Syrien fühlt sich Amman überfordert, schon in den vergangenen Jahren hatte das kleine Königreich immer wieder zigtausende Menschen aus Krisengebieten wie dem Irak und Somalia aufgenommen.
Träume von einst begraben
Ihre Träume von einst haben die syrischen Kinderarbeiter begraben. "Eigentlich wollte ich Elektrotechniker werden wie mein Vater", erzählt Hamdan. "Aber Bäcker sein, das ist auch gut und wichtig, die Menschen brauchen Brot zum Leben." Mohannad, der Verkäufer, wollte Automechaniker werden. Als die Familie nach Jordanien floh, schloss er mit seinem Zwillingsbruder einen Deal: Einer geht arbeiten und unterstützt die Familie, einer lernt und macht den Schulabschluss.
"Wenn ich jetzt auch wieder in die Schule gehen würde", sagt Mohannad, "ich könnte das doch alles gar nicht mehr aufholen." Und was wirst du in fünf Jahren machen? "Dann habe ich ein eigenes Geschäft. In Syrien." Was vermisst Du an Syrien am meisten? "Meine Freunde", sagt Mohannad. "Nach der Schule haben wir immer Fußball gespielt." Hamdan sagt, er habe in Jordanien keine Freunde. "Wann sollte ich die auch treffen?"