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Molenbeek, mon amour

Von Solmaz Khorsand aus Brüssel

Politik

Die Drahtzieher der Pariser Terroranschläge stammten mehrheitlich aus dem Brüsseler Bezirk Molenbeek. Versuch einer Image-Korrektur.


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Monatelang haben Journalisten den Molenbeeker Hauptplatz besetzt. Nun kehrt langsam Ruhe ein. Man bemüht sich um Normalität, mitunter mit Plakaten (u.), welche die Diversität des Bezirks versinnbildlichen.
© Solmaz Khorsand

Brüssel. "Passen Sie da drüben bloß auf, Madame. Molenbeek ist gefährlich", sagt die 15-Jährige ernst, "der Islamische Staat bastelt schon an der nächsten Bombe." Dann dreht sie sich mit einem breiten Grinsen zu ihren zwei Freundinnen und beginnt zu lachen. Die anderen Mädchen stimmen ein. Schon wieder jemand, der sich auf die Suche nach diesem ominösen Molenbeek macht. Es erkunden möchte. Darüber erzählen will. Es schlechtmachen wird. Solche Leute kennen die Mädchen. Und sie haben sie satt. Ihre Hysterie. Ihre Panikmache. Ihre Schaulust. Deswegen erlauben sie sich an diesem Nachmittag auch einen Spaß, wenn sie nach diesem Molenbeek gefragt werden. Denn sie wissen, zum Sightseeing spaziert keiner von der Brüsseler Altstadt über die Brücke in den Bezirk, jenseits des Kanals Charleroi.

Wer nach Molenbeek fragt, hat andere Motive. Er will das Molenbeek der Drahtzieher der Terroranschläge von Paris und Brüssel sehen. Das Molenbeek der 47 jungen Männer, die nach Syrien und in den Irak gereist sind, um für den "Islamischen Staat" zu kämpfen. Und das Molenbeek der Prediger, die sie darauf vorbereitet haben. Ja, wenn Fremde nach Molenbeek fragen, suchen sie die Sightseeing-Tour der anderen Art. Das können auch Brüssels Tourismus-Büros bestätigen. So wie die Agentur Brukselbinnenstebuiten. Gab es 2015 gerade einmal fünf Anfragen für Molenbeek, hat sich die Zahl nach den Anschlägen in Paris verzehnfacht. Heute führen ihre Mitarbeiter im Wochenrhythmus durch den Stadtteil. So auch Bert de Bisschop. Seit 14 Jahren ist der studierte Historiker Reiseführer. Er weiß um den Hype rund um die 97.000-Seelen-Gemeinde.

Ungewohnte Touristenattraktionen

"Ich sehe das als Chance", sagt de Bisschop. Jede Tour ist für ihn ein Zeitfenster, in dem Leute ihre Vorurteile herunterfahren und offen sind für Neues. In diesem Moment schlägt Bert de Bisschop zu. Dann erklärt er ihnen, was dieses chaotische Königreich Belgien ausmacht mit seinen elf Millionen Einwohnern. Wie es funktioniert - oder auch nicht funktioniert mit seinen drei dezentralen Regionen - Wallonien, Flandern und Brüssel - und ihren drei unterschiedlichen Sprachgruppen - Flämisch, Französisch und Deutsch. Und dass alles ganz anders ist, als es auf den ersten Blick scheint.

Genauso hält es Bert de Bisschop mit Molenbeek. Er zeigt Besuchern die beliebte Einkaufsstraße, die Chaussée de Gand, wo sich muslimische Frauen mit der neuesten Mode eindecken, die Salons de Thé, wo sich ihre Väter, Brüder und Ehemänner versammeln, die zweisprachige Schule seiner Tochter, wo sie auf Flämisch unterrichtet wird, die Nachbarschaftsinitiative, die sich dafür starkgemacht hat, dass die Jugendlichen einen Park mitten im Bezirk bekommen, und der aufgewertete Häuserblock gleich beim Kanal, der eine kaufkräftige Mittelschicht nach Molenbeek locken soll. "Was wir hier zeigen wollen, ist die große Diversität des Bezirks", erklärt der schlaksige Mittvierziger. Eine Terror-Tour gibt er nicht. Nur, wenn ein Tourist nachfragt, wird erwähnt, wo sich was wie abgespielt hat. Dann fällt auch schon einmal ein Halbsatz, wenn er mit ein paar Besuchern am Hauptplatz des Bezirks stehen bleibt. Hier ist das Rathaus. Und gleich gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, liegt die wohl berühmteste Sozialwohnung Europas.

Hier sind die Brüder Ibrahim und Salah Abdeslam aufgewachsen. Ibrahim, der ältere von den beiden, hat sich am 13. November vor dem Café Comptoir Voltaire in Paris in die Luft gesprengt. Außer dem 30-Jährigen kam dabei niemand ums Leben. Sein Bruder Salah, ein arbeitsloser Mechaniker, galt als Logistiker der Anschläge und Chauffeur der Attentäter. Der 26-Jährige soll seine Komplizen vor die Konzerthalle Bataclan und das Stade de France gebracht haben. Auch er hätte sich in die Luft sprengen sollen, wie er in Verhören später angab. Er hat es nicht getan und tauchte unter. Vier Monate später wurde er von der Polizei in Molenbeek gefasst. Nur wenige Meter von der Wohnung seiner Eltern, zwei marokkanischer Einwanderer, entfernt.

Vier Tage darauf sprengten sich drei junge Männer am Brüsseler Flughafen und der Metro-Station Maelbeek im EU-Viertel in die Luft. Insgesamt 35 Menschen kamen dabei ums Leben. Später hieß es, dass auch diese Männer aus derselben "Terrorzelle" wie die Brüder Abdeslam stammten.

"Ich habe laut geschrien, als ich Ibrahims Gesicht im Fernsehen gesehen habe. Ich konnte es nicht fassen", sagt Giselle. Die Mittfünfzigerin schüttelt den Kopf. "Das kann nicht wahr sein", wiederholt ihr Mann, Patrick, die Worte, die sie dem Fernsehsprecher damals von ihrer Couch aus entgegengestottert haben. Ibrahim Abdeslam war für sie kein Terrorist. Er war ihr Nachbar. Gleich im Erdgeschoß nebenan betrieb der arbeitslose Elektriker seit 2013 gemeinsam mit seinem Bruder Salah seine Bar "Les Beguines." Sie liegt auf der gleichnamigen Straße, im Norden von Molenbeek.

Das Viertel ist ruhiger und gediegener als das Zentrum des Bezirks rund um den Kanal. Es streift an die nobleren Gegenden der Stadt an. Hier lebt die alte belgische Arbeiterschaft, die früher in einer der zahlreichen Fabriken und Bierbrauereien am Kanal gearbeitet hat. Sobald sie zu Kapital gekommen war, ist sie vom Industriezentrum weggezogen. Und nachgekommen sind die Migranten aus Italien, Portugal, Griechenland und später vorwiegend aus Marokko.

Auch Giselle und Patrick leben heute im ruhigeren Stadtteil. Sie Magistratsbeamte, er Fernfahrer. Seit 27 Jahren wohnen sie in dem Viertel und fühlen sich ihm verbunden. Viele junge Männer sind in der Bar nebenan ein und aus gegangen. Sie werden etwas Gras geraucht und sogar gedealt haben, so genau haben das Patrick und Giselle nicht beobachtet. Sie wussten nur: Ibrahim und sein Bruder Salah waren in Ordnung. Gelegentlich brachte Ibrahim ein paar Häppchen vorbei, wenn sie in der Bar groß aufgekocht hatten. "Wir haben das nicht kommen sehen. Er hat so normal ausgesehen. Sogar sein Bart war kürzer als meiner", sagt Patrick und streicht sich über seine buschige, fünf Zentimeter lange Gesichtsbehaarung, als wären sie ein Gradmesser der Radikalisierung oder Normalität.

Monatelang haben Journalisten aus aller Welt in ihrer Straße campiert. 50 Mal am Tag haben sie bei ihnen angeklopft. Giselle hat nur mehr mit einem Regenschirm das Haus verlassen, ein Schutzschild gegen die Medienleute. Seit Juli sind sie weg. Keiner klopft mehr an. Dafür kommen jetzt die Touristen. Erst kürzlich hat Patrick von seinem Balkon aus ein Dutzend Franzosen gesehen, wie sie von der gegenüberliegenden Straßenseite die Bar beäugten und den Worten ihres Reiseführers lauschten. "Hier war ihr Terrornest", soll er gesagt haben. "Da bin ich durchgedreht", erzählt Patrick. "Verpisst euch!", hat er von oben geschrien und seine Faust geballt. Er hat es satt, dass die Leute sein Molenbeek schlechtreden. "Wir fühlen uns sehr wohl hier. Wir sind eine eng verbundene Kommune", sagt er. In Molenbeek würden die Leute aufeinander schauen, und noch mehr nach den Anschlägen in Paris und Brüssel. Egal ob Muslim oder Christ, Belgier, Pole oder Marokkaner. Sie alle wurden damals getroffen. "Nur weil ein paar Verrückte so etwas getan haben, heißt das doch nicht, das Molenbeek schlecht ist", sagt Patrick aufgebracht.

Ein normales Molenbeek wollen sie allesamt zeigen: Reiseführer Bert de Bisschop (o.), Bürgermeisterin Francoise Schepmans und Start-up-Pionier Ibrahim Oussari.
© Solmaz Khorsand (6), mima (1)

Sozialistische Klientelpolitik

Terror-Hochburg. Brutstätte des Terrors. Jihadicity. Ghetto. Patrick und Giselle kennen alle Synonyme für ihre Gemeinde. Aus Molenbeek stammen nicht nur die Abdeslam-Brüder, sondern auch die Täter des gescheiterten Angriffs auf den Thalys-Schnellzug 2015, der Attentäter im Jüdischen Museum in Brüssel 2014 und einer der Täter der Madrider Eisenbahn-Anschläge 2004.

Dankbar war die Medienwelt für dieses Molenbeek. Hier, auf 5,89 Quadratkilometern, ließ sich der Terror lokalisieren. Und vermessen. Rauf und runter wurden die Statistiken gespielt. 96.576 Einwohner. 30 Prozent der Bevölkerung wurden im Ausland geboren, die Arbeitslosigkeit liegt bei 30, bei den Jugendlichen gar bei 45 Prozent. Klare Kennzahlen für diese "Brutstätte des Terrors."

Personalpolitisch war der Sündenbock schnell ausgemacht: Philippe Moureaux. Von 1992 bis 2012 war der Sozialist Molenbeeks Bürgermeister. Ihn hat man für die Parallelwelt in der Kommune verantwortlich gemacht. Zu wenig hätte er von den Migranten verlangt. Keine Sprachkenntnisse, keinen Arbeitswillen, keine Integration. Moureaux hätte sie verhätschelt, sie mit Sozialwohnungen versorgt, und das nur, um seinen Wählerpool zu erweitern. Zu viele zweite Chancen hätte der 77-Jährige den jungen Delinquenten aus Marokko gegeben.

Philippe Moureaux nahm in seinem Buch "Die Wahrheit über Molenbeek" zu den Vorwürfen Stellung. Es liest sich wie eine Verteidigungsschrift. Er erklärt darin, dass er nicht zu lax gewesen sei, dass er immer das Gespräch mit den einzelnen Communitys gesucht habe und viele Projekte ins Rollen gebracht habe, von denen seine Nachfolgerin, die Liberale Francoise Schepmans, heute medienwirksam profitieren würde.

Willkommen im hippen Molenbeek

Viel Gutes kann Schepmans über ihren Vorgänger nicht sagen. Doch die 56-Jährige will an diesem Mittwochvormittag nicht über die Vergangenheit sprechen, über Präventionsprogramme, die intensive Community-Arbeit und das aufgestockte Polizeipersonal, wenn sie eine Gruppe von Journalisten auf Einladung des EU-Ausschusses der Regionen im sechsten Stock des Hotel Bellevue empfängt. Einst eine alte Bierbrauerei am Kanal, ist das Gebäude heute ein Drei-Sterne-Hotel mit angeschlossenem Ausbildungsbetrieb, in dem junge Menschen ohne Hauptschulabschluss eine dreimonatige Lehre zum Hausmädchen absolvieren können. Hier will Schepmans das andere Molenbeek vorstellen. "Liebe Journalisten, Molenbeek ist eine Gemeinde, die sich nach Modernität und Normalität sehnt. Sie hat nichts mit Dschihadismus zu tun", sagt sie. Millionen Euro hat die EU in diverse Projekte rund um die Kanal-Gegend, das Armenhaus des Bezirks, investiert. An diesem Mittwoch sollen sie der Reihe nach präsentiert werden. In fünf Gruppen werden die Journalisten vom Jugendprojekt über die Gemeinschaftsküche bis hin zum Start-up-Büro gelotst.

Es soll eine Wohlfühltour werden. Der kritischen Masse soll gezeigt werden, was im Bezirk alles getan wird, um die vermeintlichen Kennzahlen des Terrors klein zu halten. Es ist ein hippes Molenbeek. Eines, in dem Studenten in den Gemeinschaftsküchen günstige Karottensuppe löffeln, während nebenan teure Designerstühle verkauft werden. Wo an einem Ende der Kanalfront moderne Installationen in der aktuellen Ausstellung des zeitgenössischen Museums "mima" bewundert werden können und am anderen in einem Co-Working Space Computernerds vor ihren Bildschirmen sitzen, während vor dem Eingang marokkanische Jugendliche auf ihren Smartphones das freie WLAN anzapfen.

Ibrahim Oussari kennt diese Jugendlichen. Wie sie die Zeit totschlagen. Ohne Plan. Ohne Ziel. Ohne Perspektive. Er war selbst einer von ihnen. Mit 13 Jahren hat er die Schule abgebrochen. Auf der Straße würde er landen, prophezeiten ihm die Eltern. "Seien wir uns ehrlich, die Ausgangsbedingungen waren nicht die Besten: Ich lebe in Molenbeek, habe marokkanische Wurzeln und keinen Schulabschluss", erzählt der 38-Jährige und lacht.

Das nächste Silicon Valley

Er weiß, welches Stigma seinem Bezirk anhaftet. Dass man bei einer Bewerbung besser nicht die Postleitzahl 1080 für Molenbeek angibt. Das könnte die Chancen auf eine bessere Zukunft verbauen. Oussari hat sich als Jugendlicher mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Mit 20 Jahren kaufte er sich seinen ersten Computer und arbeitete sich autodidaktisch zum IT-Experten hoch. Vor einem Jahr hat er "Molengeek" ins Leben gerufen. Gemeinsam mit ein paar Kollegen organisiert er Start-up Weekends, veranstaltet Programmierkurse und hilft Unternehmern in spe mit ihren Geschäftsideen. "Molenbeeks Ruf interessiert uns nicht, sondern dass sich junge Leute in Molenbeek engagieren", erklärt er im Molengeek-Gemeinschaftsbüro. Er will seinen Nachbarn Perspektiven bieten, nicht als Busfahrer oder Hausmädchen, sondern als Unternehmer. So richtet sich sein Angebot an alle. Selbst Analphabeten sind willkommen. Ein akademischer Abschluss oder das Beherrschen des Start-up-Dialekts ist nicht notwendig. Hauptsache, es gibt eine innovative Idee. Um das Know-how kümmert er sich. Mittlerweile hat Molengeek bereits große Konzerne wie Google für eine Zusammenarbeit gewinnen können. "Ich will, dass Molenbeek das nächste Silicon Valley wird. Das Potenzial dafür ist da", sagt er.

Administrative Katharsis

Das nächste Silicon Valley. Das klingt gut für die Einwohner von Molenbeek. Das sind die Schlagzeilen, die sie in Zukunft lesen möchten. Darauf soll sich die Presse stürzen. Nicht auf die Abdeslams, Abaoouds und Zerkanis. Und wie sie sonst alle heißen. Sie will man so schnell wie möglich vergessen. Die ersten Schritte dafür wurden seitens der Molenbeeker Behörden bereits eingeleitet. Mohamed Abdeslam, der älteste Bruder von Ibrahim und Salah, der bis zu den Anschlägen im Molenbeeker Rathaus im Büro für Ausländerangelegenheiten beschäftigt war, wurde gekündigt. Im April hat sich Schepmans Administration von ihm "getrennt". Zu offensiv sei er vor die Kameras getreten und hätte seinen kleinen Bruder Salah verteidigt, als dieser noch auf der Flucht war.

Auch die Sozialwohnung seiner Eltern hat als Mahnmal für das Versagen der Brüsseler Behörden bald ausgedient. In wenigen Monaten müssen die Abdeslams ihre Bleibe räumen. Zu groß sei die Sozialwohnung für die mittlerweile geschrumpfte Familie - Vater, Mutter und Tochter -, so die offizielle Begründung für die Räumung. Wer heute zu ihrer Wohnung pilgert, sieht nur mehr blass die Blockbuchstaben des Namens, der einst mit dicken schwarzem Filzstift am Hauseingang hingeschrieben wurde. Bald wird er verschwunden sein. Nun kann das kollektive Vergessen beginnen. Zumindest auf dem Molenbeeker Hauptplatz.

Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung des EU-Ausschusses der Regionen.