Zum Hauptinhalt springen

Mondforscher des Sonnenkönigs

Von Christian Pinter

Wissen

Vor dreihundert Jahren starb der Astronom Giovanni Cassini, der in Frankreich zum gefeierten Hofastronomen aufstieg und mehrere Saturnmonde entdeckte.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Zunächst ist es die Sterndeuterei, die den am 8. Juni 1625 im ligurischen Perinaldo geborenen Giovanni Cassini anregt, den Lauf von Sonne, Mond und Planeten zu erforschen. In Genua schenken ihm die Jesuiten das mathematische Rüstzeug. Der Senator Cornelio Malvasia erhofft sich "bessere" Horoskope und überlässt Giovanni seine neue Sternwarte. Dann schlagen jesuitische Astronomen - Francesco Grimaldi und Giovanni Riccioli - den 25-Jährigen sogar als neuen Astronomieprofessor vor.

Der Planet Saturn mit seinen Satelliten in einer Voyager-Aufnahme, 1980.
© Wikimedia/NASA

Cassini lehrt nun an der Universität Bologna. Mittags mustert er das Sonnenbildchen, das auf den Boden der riesigen Basilika San Petronio fällt. Ein Loch in 27 Metern Höhe wirft es herab. So verfolgt Giovanni den Sonnenlauf und bestimmt die Ekliptikschiefe mit überragender Genauigkeit; das ist der Winkel zwischen der scheinbaren Sonnenbahn und dem Himmelsäquator. Kopernikus hat ihn 1543 mit der Neigung der Erdachse zur Erdbahnebene erklärt. Doch in Italien zieht die Erde noch keine Bahn und sie rotiert auch nicht um eine Achse. Die Lehre des Kopernikus ist 1616 ja vom Vatikan verboten worden.

Kosmische Zeitsignale

In Frankreich hat Ludwig XIV., Sohn der Anna von Österreich, den Thron bestiegen. Der "Sonnenkönig" wird 72 Jahre lang mit absoluter Herrschaft regieren, mit riesigem Hofstaat und barockem Pomp. In Bologna blickt Cassini derweil mit dem 1,5 Meter langen Teleskop des Optikers Giuseppe Campani auf Mars und Jupiter. Auf beiden Himmelskörpern macht er winzige Flecke aus, die langsam vorbei rotieren. Diese Planeten drehen sich also um ihre Achsen, genauso, wie es Kopernikus von der Erde gefordert hat! Giovanni bestimmt ihre Umdrehungszeiten auf wenige Minuten genau.

Er sieht, wie die vier von Galilei im Jahr 1610 entdeckten Monde winzige Schatten auf den Jupiter werfen. Dann wiederum verschwinden sie in dessen dickem Schatten. Beim innersten Jupitermond, Io, wiederholt sich dieses Spiel alle 42 Stunden. Der Zeitpunkt der Verfinsterung lässt sich grundsätzlich vorherberechnen und dann mit einem Fehler von ein oder zwei Minuten stoppen. Schon Galilei hatte daher vorgeschlagen, die fernen "Mondfinsternisse" als kosmische Zeitsignale zu nutzen: Solche wären dringend nötig, um Schiffen die Standortbestimmung auf hoher See zu ermöglichen oder neu entdeckte Gebiete zu beanspruchen.

Zur Festlegung der geografischen Länge braucht es, neben Sternhöhenmessungen, auch exakte Uhren. Doch die gibt es nicht. Vor allem deshalb studiert Cassini die Bahnen der vier Jupitermonde akribisch. 1668 legt er erstmals Tafeln vor, in denen die Zeitpunkte künftiger Verfinsterungen angeführt sind. Das Werk macht ihn über Italiens Grenzen hinweg bekannt.

Marquis Jean-Baptiste Colbert hat die Finanzen Frankreichs trotz der teuren Allüren seines Königs im Griff. Er wirbt um Fachleute aus dem Ausland, die beim Aufbau von Manufakturen helfen. Das verringert die Abhängigkeit von Einfuhren. Gleichzeitig forciert Colbert die Exportwirtschaft. Für den Fernhandel gründet er die Ost- und die Westin-dienkompanie. In Paris entstehen Gelehrtengesellschaften, darunter die Akademie der Wissenschaften. Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sollen den Ruhm des Königs mehren, Frankreich aber auch einen handfesten wirtschaftlichen Vorteil verschaffen. Aus den Niederlanden holt Colbert den Astronomen Christiaan Huygens an die Seine, aus Dänemark Olaus Römer.

Im Dienst Ludwigs XIV.

Ihre französischen Kollegen Adrien Auzout und Jean Picard haben den König schon darauf hingewiesen: Der rasch wachsenden Flotte fehlen immer noch sichere Verfahren zur Navigation. Um sie zu entwickeln, legt man 1667 den Grundstein für die neue Pariser Akademiesternwarte. Als Architekt fungiert Claude Perrault, der gleichzeitig auch die Ostfassade des Königspalasts Louvre entwirft. Als führenden Beo-bachter lädt Colbert den Jupitermond-Experten Cassini ein: Auch er logiert zunächst im Louvre.

Im April 1669, nur zwei Tage nach seiner Ankunft, verbeugt sich Giovanni schon vor dem Herrscher. Sofort kritisiert er die Architektur der schlossartigen Sternwarte mit ihren achteckigen Türmen: Sie bietet nur wenig Platz und Windschutz für die as-tronomischen Instrumente. Zum Wohnen wiederum sind die Räume zu hoch und daher schlecht zu heizen. Der in höfischen Belangen erfahrene Architekt Perrault setzt sich durch; er muss nur wenig ändern. 1672 geht das Observatorium in Betrieb. Bologna mahnt Cassini zur Rückkehr, doch der bittet lieber Ludwig XIV. um die französische Staatsbürgerschaft.

Der frischgebackene Franzose nennt sich nun "Jean" und heiratet die reiche, 18 Jahre jüngere Geneviève de Laistre. Das Paar wohnt in der Pariser Sternwarte. Jean wendet sich dem Mond zu und studiert das Auftauchen der lunaren Bergspitzen aus der Mondnacht. Wie er beteuert, könne dieses ferne, im Voraus kalkulierbare Alpenglühen ebenfalls als himmlischer Zeitgeber dienen. Diese Methode wird zwar scheitern, doch resultiert aus der jahrelangen Arbeit eine einzigartig detaillierte, 53 Zentimeter große Karte des Erdtrabanten.

Dessen auffälligste Krater hat Cassinis einstiger Lehrer Riccioli 1651 nach berühmten Philosophen und Astronomen benannt. Die Mondmeere tragen seither Fantasienamen: Sie spiegeln den damaligen Aberglauben wider, wonach der Mond das irdische Wetter steuere. Am Ende der "Regenbogenbucht" zeigt Cassinis Karte das Kap Heraclid als Frauenprofil mit wehendem Haar: Damit setzt er wohl seiner Gattin ein himmlisches Denkmal. Als weiteren Beweis seiner Liebe zeichnet er ein großes Herz ins "Meer der Heiterkeit" ein. Ein heller Strahl, vom Krater Tycho wegziehend, durchstößt es wie Amors Pfeil.

Giovanni Cassini.
© Wikimedia

Je größer und damit lichtstärker die einfachen, bauchigen Teleskoplinsen geraten, desto schlechter ihre Bildqualität. Abhilfe schaffen nur extrem lange Brennweiten von sechs, elf, 32 oder gar 44 Metern, wie man sie in Paris einsetzt. Für solche Baulängen gibt es aber keine Rohre. Also befestigt man Campanis Objektivlinsen - sie sind aus venezianischem Glas geschliffen - am Dach des Observatoriums oder an hohen Masten. Tief unten am Boden blicken Betrachter durch die Okulare. Mitunter dienen auch sehr lange Balken als Träger für Objektiv, Blenden und Okular. Solche "Luftteleskope" sind schwer auszurichten, halten das Ziel nur kurz im Bildfeld. Cassini reizt sie voll aus.

Schon 1655 hat Christiaan Huygens den Saturnmond Titan entdeckt. Jetzt, 16 bzw. 17 Jahre später, reicht Cassini die Trabanten Japetus und Rhea nach. Planeten und Monde addiert, hält man nun bei 14 Wandelgestirnen. Jean schmeichelt damit Ludwig XIV.

1684 wird er das Zahlenspiel zerstören, indem er den Fund der Saturnmonde Tethys und Dione meldet. Diese Namen kommen aber erst später in Gebrauch. Cassini spricht von den "Sternen Ludwigs", erklärt die Saturnmonde zum kosmischen Monument für seinen Patron. Als Himmelsuhren taugen sie nicht: Sie sind zu lichtschwach und tauchen nur selten in den Planetenschatten ein.

1675 erspäht Jean eine seltsame, dunkel anmutende Lücke: Sie teilt den Saturnring in ein inneres und in ein äußeres, matteres Gebilde. Wer den Ring bisher für einen einzigen starren Körper hielt, muss umdenken. Für Cassini besteht er aus unzählbar vielen Trabanten von zwergenhafter Dimension. Damit wird er im Wesentlichen Recht behalten. Dass die Ringteilchen in der Cassini-Lücke zu fehlen scheinen, liegt am damals noch unbekannten Saturnmond Mimas. Er kehrt diese Zone mit seiner Anziehungskraft aus.

Cassinis Erbpacht

Noch endet das Sonnensystem bei Saturn, dem mutmaßlich fernsten aller Planeten. 1672 verdeutlicht Cassini, wie weit Saturn wirklich von der Erde absteht. Dazu visiert er den erdnahen Mars über Paris an. Jean Richer macht es ihm in Cayenne gleich; das südamerikanische Guayana ist erst seit kurzem französischer Besitz. Aus perspektivischen Gründen sehen Cassini und Richer den Mars nicht exakt an der gleichen Himmelsstelle; er erscheint vor dem Sternenhintergrund vielmehr ein ganz klein wenig versetzt. Das Ausmaß der Verschiebung verrät seine Distanz. Mithilfe des dritten Keplerschen Gesetzes errechnet Cassini aus dem Marsabstand die Bahnradien aller Planeten: Ihr Reich ist viel ausgedehnter, als selbst Kopernikus ahnte. Es erstreckt sich über schwindelerregende 2,6 Milliarden Kilometer.

Die geografischen Koordinaten Cayennes hat Richer schon mit Cassinis Jupitermondtafeln bestimmt. Theoretisch funktioniert die Ortsbestimmung damit auf zwei Dutzend Kilometer genau, wenngleich die Beobachtung der Monde an Bord schwankender Schiffe schwerfällt. Paris publiziert die Verfinsterungstermine ab 1679 im ersten nautischen Jahrbuch. Frankreich ist nun eine wichtige Seemacht. Mit seinen Kolonien in Nord- und Südamerika, Afrika und Asien fährt es hohe Handelsgewinne ein.

Dank des rührigen Jean Cassini führt Paris die astronomische Forschung in Europa an. Dass er die Gravitationstheorie des Engländers Isaac Newton ablehnt, stört in Frankreich kaum. Am 14. September 1712 stirbt Cassini, völlig erblindet. Die Sternwarteleitung wird weitervererbt: an Sohn Jacques, an Enkel César-François und an Urenkel Jean-Dominique. Erst die Französische Revolution sollte die 125-jährige Ära der Cassinis beenden.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Website: www.himmelszelt.at