Die Schriftstellerin Monika Helfer über ihre Kindheit, den frühen Drang, Geschichten aufzuschreiben, ihre Bewunderung für Tschechow - und über ihre Lebens- und Künstlerpartnerschaft mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier.
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"Wiener Zeitung": Frau Helfer, seit Ihrem Roman "Oskar und Lilli", einer berührenden Geschichte rund um zwei Geschwister, die bei verschiedenen Zieheltern aufwachsen, verfolge ich Ihr Werkschaffen und staune immer wieder über Ihr Vermögen, wie Sie sich speziell in die Gedanken- und Gefühlswelt von Kindern hineinversetzen können. Woher rührt diese Gabe?
Monika Helfer: Ich komme aus einer großen Familie, wir waren sechs Kinder, und selbst habe ich ja auch vier Kinder. Als ich elf Jahre alt war, starb meine Mutter und die Kinder wurden in der Familie aufgeteilt. Wir drei Mädchen kamen zu einer Tante in eine winzige Wohnung. Sie hatte selber drei Kinder. Die ganze Situation war enorm eng, das waren wir nicht gewohnt.
Wo wohnten Sie zuvor?Aufgewachsen sind wir auf der Tschengla, das ist eine Parzelle oberhalb von der Gemeinde Bürsenberg, in der Nähe von Bludenz. Mein Vater arbeitete als Verwalter in einem Erholungsheim für Kriegsversehrte. Da er selbst kriegsversehrt war, bekam er diesen Job. Wir wohnten auch in diesem riesigen Haus und fühlten uns wie die Fürstenkinder. Obwohl meine Mutter oft krank war, hatten wir es wahnsinnig schön. Damals gab es in dieser Gegend noch keinen Fremdenverkehr, nur ein paar Bauernhöfe und eben dieses Heim. Im Winter sind wir mit den Skiern, und sonst zu Fuß in die Schule gegangen. Wir hatten einen langen Schulweg - mindestens zwei Stunden, aufwärts um einiges länger. Selten durften wir mit der Seilbahn fahren, die war nämlich nur für die Urlaubsgäste vorgesehen.
Und mit einem Schlag war Ihre als schön empfundene Kindheit vorbei.
Das war wirklich ein Schock. Ich denke, mein Interesse oder meine Zuneigung für Kinder stammt aus dieser Zeit, als wir plötzlich allein waren. Die Tante hat sich schon um uns gekümmert, aber ich fühlte mich einfach völlig verlassen. Ich dachte mir oft, wenn ich am Abend nicht heimkomme, merkt das bei so vielen Leuten ohnedies niemand. Gerade in diesem Alter empfindet man sehr intensiv. Einerseits wird man hart, aber man wird auch ganz weich - weich mit Gleichgesinnten, mit Menschen, die auch verletzt worden sind.
In Ihrem jüngsten Werk, "Die Bar im Freien", erzählen Sie dem Leser über 100 kurze Geschichten, die ebenfalls in der Mehrzahl von Menschen bevölkert sind, die man als gesellschaftliche Randfiguren bezeichnen könnte: Heimatlose, Trauernde, Suchende . . . Woher nahmen Sie die Inspiration für diese Texte?
In der Welt, in der ich mich bewege, begegnen mir einfach oft Menschen mit existenziellen Problemen. Das berührt mich einfach sehr - und das sind auch die Geschichten, die mich interessieren.
Heißt das, die Geschichten in Ihrem neuen Buch haben einen konkreten Realitätsbezug?
Nein, mit Ausnahme von einigen wenigen Texten ist das nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass ich mir zu Menschen, die mir etwa im Zug oder auf der Straße begegnen, gerne eine Geschichte ausdenke.
Sie fantasieren sich also zu fremden Menschen Geschichten?
Ja. Natürlich hat man als Basis eine gewisse Menschenkenntnis. Ich hätte dieses Buch auch nicht früher schreiben können. Als junger Mensch hat man einfach noch nicht so viele Menschen kennen gelernt. Dann kämen die Geschichten nur aus der Fantasie.
Viele der Texte aus "Der Bar im Freien" wirken auf den ersten Blick surreal, sind aber gleichzeitig immer auch möglich, manchmal in ihrer schicksalhaften Brutalität auch zutiefst realistisch. Der Untertitel des Buches lautet: "Aus der Unwahrscheinlichkeit der Welt". Was genau darf man sich darunter vorstellen?
Das Motto habe ich deshalb gewählt, weil ich finde, dass viele Geschichten so unwahrscheinlich klingen, aber trotzdem wahr sind oder wahr sein könnten.
Die einzelnen Geschichten sind durchschnittlich maximal zwei Seiten lang. Man hat als Leser das Gefühl, dass Ihnen diese kurze Form liegt . . .
Die kurze Form liegt mir total, weil es in gewisser Weise auch ein Trick ist. Wenn man wenig von den Menschen weiß, über die man schreibt, sind Menschenkenntnis und Fantasie ausreichend. Müsste man die Geschichten ausbauen, wäre man vielleicht kitschgefährdet, weil man sich eine ganze Menge zu den Leuten dazu denken müsste. Dann weiß ich nicht, ob ich noch diese Präsenz hätte. Aber in dieser Kürze merke ich selbst, dass ich es oft hinkriege. Es ist ein bisschen so, wie wenn man einen Schmetterling, den man ja auch nicht fangen oder kaputtmachen möchte, für einen ganz kurzen Moment berührt und ihn dann sofort wieder wegfliegen lässt.
Weil Sie das Thema Kitsch ansprechen: Selbst in "Oskar und Lilli", einem Roman, der meinem Empfinden nach wirklich ans Herz geht, besteht niemals der leiseste Verdacht auf Kitschgefahr.
Ich glaube, wirklich kitschgefährdet ist man wohl nur, wenn man keine echten Gefühle hat, und zwar "echt" im Sinne von realen Gefühlen. Wenn man wirkliche Gefühle hat und eine normale Empathie, also ohne Pathos, dann gibt es keinen Kitsch. Dann schreibe ich einfach, was ich sehe, und das reicht. Das Elend ist so groß, da muss ich nichts dazu erfinden. Das stünde mir auch nicht zu.
War Ihnen schon als junger Mensch klar, dass Sie Schriftstellerin werden wollen?
Ja, das war immer schon mein Wunsch. Bereits als Kind habe ich laufend kleine Geschichten auf Zetteln aufgeschrieben. Ich hatte einfach das Bedürfnis, Dinge, die mich beschäftigten, sofort zu Papier zu bringen, damit ich die Geschehnisse irgendwie aus meinem Kopf bekomme. So in der Art: Ich rede mit dem Papier, das ist jetzt mein Kamerad. Sobald es niedergeschrieben war, war es mir auch nicht mehr wichtig. Ich habe die Texte auch nicht aufbewahrt.
Liegt die schriftstellerische Begabung in Ihrer Familie?
Nein. Ich glaube wirklich - und kenne dies ja auch von vielen Kollegen -, dass Schriftstellerei oft aus verletzten Situationen entsteht. Viele Schriftsteller sind durch irgendein prägendes Ereignis zum Schreiben gekommen. Nach der Schule war für Sie also klar, dass Sie sich auf das Schreiben spezialisieren möchten?
Ja. Das Thema Buch war in unserer Familie auch sehr präsent. Mein Vater war ein Bücherfanatiker, ein echter "Buchjunkie". Wir waren ja arme Leute, Geld war im Grunde nie vorhanden. Trotzdem hat mein Vater immer heimlich Bücher gekauft und sie dann im Kartoffelkeller in tiefen Regalen versteckt, weil er ein schlechtes Gewissen hatte.
Ein schlechtes Gewissen, weil er mit diesem Geld nicht Kleidung oder Schulsachen gekauft wurden?
Genau. Speziell wissenschaftliche Bücher hatten es ihm angetan. Er besaß unglaublich viele Lexika, sammelte auch naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, die er dann binden ließ. Ich kenne meinen Vater nur in seinem Lehnstuhl sitzend und lesend. Auch meine Schwester und ich sind jede Woche in die Arbeiterbibliothek gegangen und haben uns stapelweise Bücher ausgeborgt. Lesen hat bei uns in der Familie einfach Tradition.
Ist Ihnen diese Leseleidenschaft bis heute geblieben?
Es gibt so viele wunderbare, inspirierende Schriftsteller. Ich lese nach wie vor sehr viel.
Haben Sie spezielle Lieblingsautoren?
Das ist immer schwierig zu beantworten, weil man all jenen guten Schriftstellern Unrecht tut, die man dann nicht nennt. Zurzeit lese ich Daniel Woodrell, ich mag seine Krimis ungemein gerne, weil es fantastische Milieustudien sind. Natalia Ginzburg schätze ich ebenfalls sehr, natürlich auch Philip Roth, John Updike, Don DeLillo. Müsste ich mich auf einen Lieblingsdichter einigen, dann wäre es Tschechow.
Aus welchem Grund?
Von Tschechow habe ich unheimlich viel gelernt. Er war Arzt und allein aufgrund seines Berufs hatte er unwillkürlich viel mit bedürftigen Menschen zu tun. Er kommt aus armen Verhältnissen und hat anfänglich unter schwierigsten Bedingungen geschrieben. Später, als er bereits seine Theaterstücke verfasste, hat er immer noch Leute behandelt, die sehr krank waren und kein Geld hatten, um zu bezahlen. Das muss man sich vorstellen! Dabei war er zu diesem Zeitpunkt selber schon krank. Er hat die Leute behandelt und auch Geschichten über diese Menschen geschrieben, weil sie ihm so ans Herz gegangen sind. Das kann ich total gut verstehen. Auch diese Geschichte mit den Tulpenzwiebeln fasziniert mich!
Könnten Sie diese Geschichte näher ausführen?
Es gibt bei Tschechow eine Textstelle, wo er davon erzählt, dass er über 800 verschiedene Tulpenzwiebeln bestellt hat. Seine Idee war, dass die Leute, die zu ihm in die Behandlung kommen, von einem Meer an Tulpen gesäumt werden. Ich mag die Natur auch sehr gerne und kann diesen Überschwang gut nachvollziehen, also dass man sich plötzlich denkt, man möchte sehr viel Schönheit um sich, sozusagen als Kontrast zu all dem anderen.
Sie selbst sind seit 1981 mit Michael Köhlmeier verheiratet. Haben Sie Ihren Mann über die Literatur kennen gelernt?
Ich habe Michael über das Schreiben kennen gelernt und wir haben uns sofort total gut verstanden. Wenn wir miteinander reden, würde ich sagen, dass wir zu 80 Prozent über das Schreiben sprechen, über die Art, wie man schreibt, was man tun oder besser lassen sollte.
Ich würde jedem Künstler empfehlen, mit einem anderen Künstler liiert zu sein, weil man aufgrund der vorhandenen Sensibilität für eine gewisse Materie so viel voneinander lernen kann. Natürlich ist es oft auch schwierig, schließlich schreibt jeder anders. Dann kommt es natürlich schon auch vor, dass man beleidigt ist, wenn man vom Anderen kritisiert wird . . .
Ist die Meinung des Anderen bereits im Rahmen der Arbeit an einem neuen Roman gefragt, oder wird erst das fertige Manuskript hergezeigt?
Ich zeige Michael ab und zu auch zwischendurch meine Arbeit, aber er weitaus häufiger als ich. Michael ist jemand, der sehr viel während des Schreibens entwickelt. Er sagt oft, wenn ich mit dir rede, weiß ich nachher besser, was ich machen soll. Im Grunde braucht er eigentlich nur einen Zuhörer, danach kann er sich hinsetzen und weiß, wie es weitergeht. Das kann ich leider nicht. Ich bin oft sturer, das ist eine Eigenschaft, die ich wirklich an mir hasse.
In Ihrem letzten Roman, "Bevor ich schlafen kann", ist man als Leser über diese Selbstverständlichkeit überrascht, mit der Sie Ihre Familie als literarische Figuren auftreten lassen. Zum einen Ihren Mann Michael Köhlmeier, zum anderen Ihre im Jahr 2003 bei einem Bergunfall tödlich verunglückte Tochter Paula. War diese erzähltechnische Wendung von Anbeginn geplant?Überhaupt nicht! Das hat sich ergeben. Ich plane nie ein Buch von Anfang bis Ende durch, sondern handle mich von Kapitel zu Kapitel. Aber seit dem Tod unserer Tochter ist dieses Unglück immer irgendwie im Hinterkopf, und ich scheue mich, darüber zu schreiben, weil ich finde, das geht einfach nicht. Aber während der Arbeit an diesem Roman war Paula gedanklich derart präsent, dass ich mir dachte: Okay, dann kommst du eben vor. Sie hat mir das einfach aus der Hand genommen, muss ich sagen.
2005 erschien von Ihrer Tochter Paula postum der Erzählband "Maramba" . Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen Ihrem und Paulas Schreibstil?
Die Art, wie Paula geschrieben hat, ist eigentlich die Art, wie ich schreibe. Sie war natürlich noch viel spontaner, weil sie auch weniger Hintergrund hatte. Michael hat oft gemeint: Ihr zwei mit euren Randfiguren! Paula war ein Mensch, die sich immer dafür interessiert hat, wie es den Menschen geht. Sie war unglaublich empathisch. Wenn sie jemanden in der U-Bahn sah, dem es offensichtlich miserabel ging, hat sie das kaum ausgehalten. Das kann ich total gut verstehen, weil es mir auch so geht. Paula war, bevor sie gestorben ist, gerade dabei, in eine andere Wohnung zu übersiedeln. Die Wohnung war vollgeräumt mit Umzugskartons. Mitten in diesem Chaos saß Paula mit ihrem Computer und schrieb. Ich glaube, sie hat eine richtige Pranke fürs Schreiben gehabt.
Gemeinsam mit Ihrem Mann haben Sie das Kinderbuch "Rosie und der Urgroßvater" geschrieben. Wie darf man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?
Gemeinsam ein Buch zu schreiben geht ja nur, wenn einer das Gerüst liefert und der andere dann Ergänzendes hinzufügt.
Welcher war Ihr Part?
Ich war sozusagen das Gerüst, und Michael ist dann mit großer Geste noch einmal darüber gegangen und hat so richtig Fleisch dazu gegeben. Er ist ja wirklich ein Meister der epischen Form.
Auch ein Meister in Sachen Erzählkunst.
Dabei wollte er das ursprünglich gar nicht machen. Im Grunde wollte er immer nur Romane schreiben. Aber anfänglich hätten wir vom Schreiben alleine nicht leben können. Da wären wir verhungert. Michael musste alle möglichen journalistischen Aufträge annehmen, damit wir finanziell über die Runden kamen. Mit seinen Hörspielserien hat das Geldverdienen dann eigentlich erst richtig begonnen.
Und dann kam die Projektidee mit der Sendereihe "Michael Köhlmeier erzählt Sagen des klassischen Altertums".
Mit der griechischen Mythologie hat er sich immer schon sehr gut ausgekannt. Die ganzen Verwandtschaftsverhältnisse hat er einfach im Kopf. Da weiß er besser Bescheid als über seine eigenen Verwandten. Er erzählt ja frei. Das kann er einfach. Und wenn ihm einmal etwas nicht einfallen wollte, hat er es eben erfunden. So genau hat er es dann auch nicht genommen. Bei einem Schriftsteller muss man immer darauf gefasst sein, dass er auch etwas erfindet.
Christine Dobretsberger, 1968 in Wien geboren, ist freie Journalistin, Autorin und Geschäftsführerin der Text- und Grafikagentur "Lineaart". Im Molden Verlag ist soeben der von ihr herausgegebene Band "Polizist und Mensch. Geschichten, die unter die Haut gehen", erschienen.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Seit 1981 ist sie mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, darunter: "Kleine Fürstin" (1995), "Wenn der Bräutigam kommt" (1998), "Bestien im Frühling" (1999), "Mein Mörder" (1999) und zuletzt im Deuticke Verlag "Bevor ich schlafen kann" (2010), "Oskar und Lilli" (2011) und "Die Bar im Freien" (2012). Im Hanser Kinderbuch Verlag veröffentlichte sie gemeinsam mit Michael Köhlmeier 2010 "Rosie und der Urgroßvater". Für ihre Arbeiten wurde Monika Helfer unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium (1996) und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur (1997) ausgezeichnet.