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Monika Wagner und Martin Schenk

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen
Monika Wagner im Gespräch mit Christine Dobretsberger.

Die Kultur- und Sozialexperten Monika Wagner und Martin Schenk sprechen darüber, wie sich das Bild von Armut verändert hat - und was getan werden kann, um armen Menschen Zugang zu Kultur- und Kunsteinrichtungen zu verschaffen.


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Wiener Zeitung: Herr Schenk, 2010 ist das "Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung". Welche Maßnahmen und Aktivitäten sind in Österreich mit dieser Kampagne verbunden? Martin Schenk: Wir machen das, was wir immer machen. Wir versuchen, Hilfesuchende aufzufangen, ihre Lebenssituation zu verbessern, Armutsbetroffene bei ihrer Selbstorganisation zu unterstützen. Und das, was Armutsbekämpfung im Weg steht, anzuprangern und auf Veränderungen zu drängen. Die Chance dieses Jahres liegt im Rückenwind, den wir alle brauchen können.

Monika Wagner: Der Verein "Hunger auf Kunst und Kultur" plant aus diesem Anlass eine Kampagne, die im Mai starten wird und die Öffentlichkeit für die Themen "Ausgrenzung" versus "Teilhabe am kulturellen Leben" sensibilisieren soll. Geplant sind allerlei Grenzüberschreitungen im öffentlichen Raum. Mehr wollen wir noch nicht verraten.

Wie viele Menschen in Österreich sind von Armut betroffen? Schenk: In Österreich sind 492.000 Menschen von manifester Armut bedroht.

Was ist konkret unter manifester Armut zu verstehen? Schenk: Manifeste Armut definiert sich durch zwei Faktoren. Zum einen bedeutet es, ein äußerst geringes Einkommen zu haben. Zum anderen, einem Mangel an Möglichkeiten ausgeliefert zu sein. Das heißt etwa, in einer feuchten, schimmligen Wohnung zu wohnen, chronisch krank zu sein oder sich unerwartete finanzielle Ausgaben nicht leisten zu können. Wenn diese beiden Konstellationen zusammentreffen - Mangel an Einkommen sowie Mangel an Möglichkeiten -, dann spricht man von manifester Armut.

Wagner: Die Zahl der armutsgefährdeten Menschen in Österreich ist allerdings noch viel höher. Sie beträgt knapp eine Million.

Schenk: Ein Anzeichen für Armutsgefährdung ist es beispielsweise, wenn man Freunde oder Verwandte nicht mehr zum Essen nach Hause einlädt. In diesem Fall spielt weniger das, was man im Kühlschrank hat, eine Rolle sondern vielmehr der Schamfaktor. Menschen, die von Armut betroffen sind, möchten ihr privates Unglück nicht öffentlich machen. Man geniert sich für seine Wohnsituation, für renovierungsbedürftige Zustände usw.

Wagner: Das Bild von Armut hat sich im Lauf der Zeit stark verändert. Während in den 1970er und 1980er Jahren Armut noch größtenteils mit Obdachlosigkeit gleichgesetzt wurde, sieht die Situation heute ganz anders aus. Menschen, die tatsächlich kein Dach mehr über dem Kopf haben, machen nur einen kleinen Prozentsatz der Armutsgefährdeten aus. Auf Grund der unsicheren Arbeitsmarktsituation ist heute bereits ein Teil der unteren Mittelschicht gefährdet, in die Armut abzurutschen. Viele dieser Menschen sind auf der Straße aber nicht als "Arme" erkennbar.

Schenk: Und solche Menschen setzen auch alles daran, ihre missliche Lage zu verheimlichen. Arm zu sein ist an sich schon eine sehr belastende Situation; dies auch noch vor anderen bekennen zu müssen, verschärft die Lage zusätzlich.

Frau Wagner, Sie sind Geschäftsführerin des Vereins "Hunger auf Kunst und Kultur". Zielt diese Initiative zuletzt nicht auch darauf ab, Menschen, die von Armut betroffen sind, vor sozialer Isolation zu bewahren?

Martin Schenk und Monika Wagner haben gemeinsam das Konzept eines Kulturpasses erarbeitet, der Armen freien Eintritt in Kultureinrichtungen ermöglicht.Foto: Robert Wimmer

Wagner: Das ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Wir sind der Meinung, dass auch Menschen mit finanziellen Engpässen ein Recht auf Kunst und Kultur haben. Wobei sowohl die Auseinandersetzung mit Kunst entscheidend ist, als auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Viele von Armut betroffene Menschen leben extrem isoliert und zurückgezogen.

Wie funktioniert die Aktion "Hunger auf Kunst und Kultur" in der Praxis? Wagner: Menschen, die nachweislich von Armut betroffen sind, haben die Möglichkeit, sich einen sogenannten Kulturpass ausstellen zu lassen, der freien Eintritt zu allen Kultureinrichtungen, die Partner der Aktion sind, garantiert.

In Österreich hätten also 492.000 Menschen Anspruch auf diesen Kulturpass? Wagner: Genau. All jene Personen, die Sozialhilfe, Notstandshilfe oder eine Mindestpension beziehen. Und diese Aktion gilt selbstverständlich auch für Flüchtlinge.

Wie viele Menschen haben dieses Angebot bereits in Anspruch genommen, und wo ist der Kulturpass erhältlich? Wagner: In Wien gibt es rund 20.000 Kulturpass-Besitzer, in ganz Österreich sind es rund 32.000. Ausgestellt wird der Kulturpass in Wien bei 198 Stellen, die Vergabe erfolgt einerseits über das Netzwerk der Armutskonferenz und viele karitative Hilfsorganisationen und Betreuungsstellen, andererseits über die Sozialzentren der Stadt Wien und das AMS. Der Erfolg dieses Projektes liegt auch darin begründet, dass die Sozialarbeiter dieses Angebot in ihre Betreuungsarbeit integriert haben. Teilweise werden gemeinsame Kulturausflüge organisiert, teilweise Menschen dazu motiviert, die kulturellen Angebote eigenständig zu nutzen.

Welche Kultureinrichtungen sind Partner dieser Aktion? Wagner: Momentan gibt es in Wien 141 Kultureinrichtungen, die sich an der Aktion beteiligen, dazu zählen Albertina, Haus der Musik, MUMOK, Technisches Museum, Wien Museum, Dschungel Wien, Figurentheater Lilarum, Volkstheater, Vereinigte Bühnen Wien, Kabarett Niedermair, Gloria Theater usw.

Schenk: Österreichweit sind es bereits 460 Kulturinstitutionen, die sich dem Projekt angeschlossen haben.

Wagner: Uns war von Beginn an wichtig, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die es den Kulturpassbesitzern ermöglichen, sich eine Karte für eine gewünschte Vorstellung reservieren zu lassen. Wir wollten bewusst kein Restkarten-System, denn Kulturpassbesitzer sollen nicht in Form von "Almosen" das bekommen, was andere nicht wollen.

Wie finanziert sich dieses Modell?

Martin Schenk: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein . . ."

Schenk: Jede Kultureinrichtung, die Partner der Aktion ist, ist selbst für die Finanzierung dieser Karten verantwortlich. Je nach Einkommenssituation der jeweiligen Kultureinrichtung werden die Gelder entweder durch Spenden lukriert oder durch ein fix einkalkuliertes Budget. Andere Häuser wiederum stellen einen bestimmten Prozentsatz an Karten zur Verfügung. Wie gesagt, die zugrunde liegende Idee beruht auf sozialem Ausgleich.

Wie kam die Projektidee "Hunger auf Kunst und Kultur" überhaupt zustande? Schenk: Das Pilotprojekt startete im Jahr 2003 im Schauspielhaus Wien. Damals war Airan Berg Direktor des Schauspielhauses und erzählte mir, dass er gerne neue Publikumsschichten ansprechen würde, die möglicherweise bisher keine Möglichkeit hatten, ins Theater zu gehen. Im Vordergrund stand der Wunsch, in einer Großstadt wie Wien einfach niemanden vom Kulturbetrieb auszuschließen. Ich wusste aus vielen Gesprächen mit von Armut betroffenen Menschen, dass bei vielen von ihnen ein großes Bedürfnis nach Kunst und Kultur vorhanden ist. Monika Wagner war damals für die Kommunikation im Schauspielhaus verantwortlich. Gemeinsam haben wir dann die Idee des Kulturpasses entwickelt.

Wagner: Im Schauspielhaus war es konkret so, dass das Kulturpass-Ticket einen Wert hatte, der auch auf dem Ticket ausgewiesen war und verbucht wurde. Für Kulturpassbesitzer war der Eintritt zwar gratis, die Karte wurde aber bezahlt, und zwar aufgrund von Spendengeldern, Einkünften bei Benefizveranstaltungen usw.

Schenk: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Diese Karten sind keine verschenkten Gratiskarten, sondern bezahlte Karten. Das macht nicht zuletzt bezüglich des zuvor angesprochenen Beschämungsfaktors einen wesentlichen Unterschied. Unser Ziel ist es, dass die Menschen an der Kassa gut behandelt werden, und die Beschämungsrisiken, die es mit einem Sonderpass natürlich immer geben kann, möglichst klein zu halten.

Wagner: Bei einem Restkarten-System wäre dieses Risiko viel größer.

Schenk: Man darf nicht vergessen: Zugang zu diversen Kultureinrichtungen zu haben, heißt noch lange nicht, immer willkommen zu sein. Um Hemmschwellen abzubauen, haben wir mit dem Modell "Kultur-Transfair" ein zusätzliches Projekt auf die Beine gestellt.

Wagner: Konkret haben wir einen Austausch zwischen sozialen und kulturellen Einrichtungen angeregt, um etwaige Ängste und Barrieren der beteiligten Menschen zu erkunden und besser zu verstehen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass für manche Menschen beispielsweise allein schon die Reservierungsmodalitäten eine oft hohe Hürde sind. Dass manche Bevölkerungsschichten vom Kulturbetrieb ausgeschlossen sind, ist oft nicht nur eine Frage des Geldes. Der partnerschaftliche Dialog zwischen Sozial- und Kultureinrichtungen hat sehr gut funktioniert und dazu geführt, dass der Kulturpass in verstärktem Maße genutzt wurde.

Gibt es in Europa vergleichbare Kulturprojekte? Wagner: Ausländische Interessenten haben sich immer an uns gewandt. Wien dürfte in dieser Sache eine Art Vorreiterrolle spielen. Bei internationalen Zusammenkünften ist denn auch stets vom "Wiener Modell" die Rede. 2008 waren wir beispielsweise in Luxemburg eingeladen, um an einem Runden Tisch "Hunger auf Kunst und Kultur" vorzustellen. Heuer soll das Projekt auch dort starten. In Deutschland gibt es in einzelnen Städten ähnliche Initiativen - zum Beispiel in Hamburg, Darmstadt, Stuttgart und Frankfurt. Für mich ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ein Auftrag, die internationale Vernetzung noch stärker zu fokussieren.

Wobei sich prinzipiell die Frage stellt, inwiefern Kunst und Kultur im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung etwas bewirken können? Schenk: Man weiß aus der Armutsforschung, dass die erfolgreichsten Projekte jene sind, die den Menschen als Ganzes sehen, also alle Facetten mit einbeziehen, die das menschliche Leben ausmachen. Und dazu zählen auch Kunst und Kultur. Der Mensch lebt nun einmal nicht vom Brot allein, sondern eben auch von Beziehungen, tiefen Erfahrungen, mitunter auch von Auseinandersetzungen. Und die Kunst bietet auf diesem Gebiet eine breite Angebotspalette.

Wagner: Gerade im Rahmen der Integrationsarbeit wurden schon sehr gute Erfahrungen mit Kunst und Kultur gemacht. Menschen, die für sich selbst keine Zukunftsperspektive mehr sehen, tut die Auseinandersetzung mit anderen Erfahrungswelten oft sehr gut.

Schenk: Armutsbekämpfung ist dort erfolgreich, wo der Mensch als Ganzes gesehen wird. Wer mit Erwerbslosen zu tun hat, denkt an Bildung, an Existenzsicherung, an Wohnen, Familie, Gesundheit. Wer mit Gesundheitsfragen von Armutsbetroffenen zu tun hat, sorgt sich um sinnvolle Tätigkeiten, um ordentliche Wohnungen, Bildung, Erholungsmöglichkeiten und Lösungen der bedrängenden Existenzangst.

Wagner: Armutsbetroffenen die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu verweigern, indem man beispielsweise fordert, dass sie den ganzen Tag nur Jobtrainings absolvieren sollen, wäre nicht nur ethisch zu kurz gedacht, sondern auch total ineffizient. Die Erfolgsquote ist einfach geringer, wenn man nur auf eine Dimension des Menschen abzielt.

Schenk: Und auch von Seiten der Psychologie gibt es Antworten, warum der Mensch Kunst und Kultur benötigt. Man denke nur an die Resilienzforschung, die sich mit der Fragestellung befasst, was Menschen widerstandsfähiger macht, um schwierige Lebenssituationen meistern zu können. Hier gibt es drei große Faktoren - ich nenne sie hilfreiche "Lebensmittel". Das erste Mittel sind soziale Kontakte, Freundschaften, Beziehungen. Das zweite "Lebensmittel" ist die Selbstwirksamkeit, also das Gefühl zu haben, das Steuerrad des Lebens selbst in Händen zu halten. Und das dritte ist Anerkennung und Respekt.

Die Initiative "Hunger auf Kunst und Kultur" kann viele solche stärkende "Lebensmittel" offerieren. Denn Theater, Ausstellungen oder Konzerte bieten eben die Möglichkeit, aus der Isolation auszubrechen, wieder unter die Leute zu kommen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Und das stärkt die Menschen.

Monika Wagner ist Geschäftsführerin des Vereins "Hunger auf Kunst und Kultur" in Wien. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie und Publizistik an der Universität Wien. Seit 1994 in den Bereichen Kultur- und Projektmanagement und PR im Wissenschafts- und Kulturbereich - und zwischen 2001 und 2007 am Schauspielhaus Wien - tätig. Externe Lektorin an der Universität Wien und Vorstandsmitglied der Plattform für Kulturen, Integration und Gesellschaft. (Nähere Informationen zum Verein "Hunger auf Kunst und Kultur" unter www.hungeraufkunstundkultur.at)

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich. Seine Schwerpunkte sind welfare policy, Gesundheit und Menschenrechte. Mitbegründer des österreichischen Anti-Armut-Netzwerks ("Die Armutskonferenz"). Schenk ist seit 1989 in der Arbeit mit - speziell straffällig gewordenen - Jugendlichen tätig, daneben in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen, Wohnungslosen und Flüchtlingen. Mitinitiator zahlreicher sozialer Initiativen: "Wiener Spendenparlament" (Stimmen gegen Armut), Verein Hemayat (Betreuung schwer Traumatisierter), "Sichtbar Werden" (Armutsbetroffene organisieren sich). Lehrbeauftragter an dem Fachhochschul-Studiengang Sozialarbeit am Campus Wien. Soeben ist von ihm, gemeinsam mit Michaela Moser, das Buch "Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut" im Verlag Deuticke erschienen.

Die Armutskonferenz ist seit über zehn Jahren im Dienste jener Menschen aktiv, die über keine Lobby verfügen. Ziel ist es, das oftmals verschwiegene Problem von Armut und sozialer Ausgrenzung zu thematisieren und eine Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen herbeizuführen. Die in der Armutskonferenz zusammengeschlossenen Sozialorganisationen (u.a. Caritas, Diakonie Österreich, Aktionsgemeinschaft der autonomen Frauenhäuser, Volkshilfe Österreich, SOS Mitmensch, Österreichischer Berufsverband der SozialarbeiterInnen) betreuen und unterstützen in Österreich jährlich über 500.000 Hilfesuchende.

Motto der diesjährigen Armutskonferenz, die am 23. und 24. Februar 2010 im Konferenzzentrum St. Virgil in Salzburg stattfindet, ist das Thema "Verteilung"; und zwar nicht nur im Sinne von Geldverteilung, sondern auch von Lebensqualität und Wohlbefinden, von Chancenverteilung, Anerkennung und ausgewogener Gesundheitsvorsorge. (Nähere Programminformationen sind im Internet unter www.armutskonferenz.at abrufbar.)

Christine Dobretsberger, 1968 in Wien geboren, viele Jahre Kulturredakteurin der "Wiener Zeitung", nun freie Journalistin und Autorin; seit 2005 Geschäftsführerin der Text- und Grafikagentur "Linea-art" (www.lineaart.at).