Gegen Wikileaks gibt es eigentlich nur ein Gegenmittel: Diplomaten müssen ihre Zunge hüten, die Mächtigen aber eine ehrlichere Politik treiben.
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Es wird alles offenbar, und das nicht erst, seit der Wikileaks-Gründer Julian Assange seine Besessenheit auslebt, die mit Schleppnetzen aufgefischten Staatsgeheimnisse der USA im Internet zu veröffentlichen. 250.000 Akten sind es diesmal, 92.000 waren es, als im Sommer militärische Geheimnisse des Afghanistan-Kriegs ausgebreitet wurden. Die Datenmenge steigt, die Qualität nicht unbedingt. Vieles von dem, was in dieser Woche aus dem digitalen Container quoll, hat Schlüssellochcharakter.
Die einfachen Weltbürger schauen den Mächtigen zu. Und was erleben sie? Es menschelt. Gekocht wird vielfach mit Wasser. Politiker haben Ideen, die sie nie öffentlich zugeben würden, manchmal sogar gute.
Die einen sind bei der Lektüre dessen, was Zeitungen selektiv abdrucken, eher belustigt, für die anderen tut sich ein Abgrund auf. Es geht ja nicht nur um Hoftratsch, sondern um iranische Atomrüstung, um den Machtpoker in Nahost, um Treue und Untreue in der westlichen Staatengemeinschaft. Auch wenn die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton sofort "aggressive Schritte" gegen die Verräter ankündigt, so kann sie eine Hoffnung sofort aufgeben. Sie wird vielleicht den Kopf des Drachen abschlagen, aber nicht verhindern, dass dem Ungeheuer weitere Köpfe nachwachsen. Was Assange macht, ist keine feine Sache, aber auch keine Revolution.
Die Spirale des Geheimnisbruchs, den es seit Menschengedenken gibt, wurde mit der Digitalisierung in neuen Schwung versetzt. Es verplaudert sich nicht bloß ein Botschafter, es setzt nicht nur ein finsterer Zeitgenossen gezielte Indiskretionen in die Medien, nein, die "Secrets" kommen in Ladungen an. 250.000 Akten kann sowieso kein normaler Mensch lesen, weshalb die Journalisten wieder einmal etwas zu tun hätten, was ihre Aufgabe ist: sichten, Relevantes ans Tageslicht fördern und den Rest wegschmeißen. Das funktioniert besser, als wenn Ministerien sensible Daten zu löschen vorgeben - irgendwer wird rechtzeitig Kopien anfertigen, man weiß ja nie.
Die mit vielen Privilegien ausgestatteten Mitglieder des internationalen diplomatischen Dienstes bemerken plötzlich, dass es gefährlich ist, wenn sie parallel zu ihrer professionellen Arbeit auch hübsche Bonmots über Zeitgenossen streuen, um sich im Kollegenkreis interessant zu machen. Jetzt laufen sie Gefahr, sich in aller Öffentlichkeit zu blamieren, wenn ihre unbedachten Aussprüche in die Zeitung kommen. Sie werden bald wortkarger werden.
Und die Mächtigen - die Präsidenten, Premiers, Minister, aber auch Bankchefs und Konzerndirektoren - werden sich mit der Tatsache anfreunden müssen, dass jede Geheimhaltung Lücken hat. Dieses Schicksal ereilte aber nicht erst Hillary Clintons State Department. US-Präsident Nixon, der sich in seinen eigenen Tonbändern verhedderte, war ein frühes Opfer des Fortschritts technischer Kommunikation. Und selbst in Europa wissen etliche Steuerhinterzieher längst, wie man sich fühlt, wenn man auf eine widerrechtlich angefertigte CD von Bankgeschäften geraten ist. Der eigene Staat hilft ihnen nicht, sondern kauft die CD für die Steuerfahnder an.
Welcher Vertrauensverlust ist übrigens größer: der durch Wikileaks oder der durch die Manipulationen des US-Präsidenten George W. Bush zugunsten des Irak-Kriegs?
Der Autor ist Sprecher der Initiative Qualität im Journalismus; zuvor Journalist für "Wirtschaftsblatt", "Presse" und "Salzburger Nachrichten".