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Monster und bezahlte Mörder

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik
"Ich will lieber in meiner Heimat sterben, als hier im Schlamm zu leben", sagte Nadine Muhammed, die vor der Sperre auf den Einlass wartete.
© Nordhausen

Die Flüchtlingstragödie an der syrisch-türkischen Grenze geht weiter. US-Luftangriffe konnten IS-Terroristen nicht lange stoppen.


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Mürsitpinar. Die Mittagssonne taucht abgeerntete Weizenfelder auf sanften Hügel in ein fahles Gelb, mit grünen Tupfern, wo Olivenhaine stehen. In einer großen Senke ist rechts ein altes französisches Fort zu erkennen, die Würfelhäuser eines kleinen Dorfes, eine Bahnlinie. Plötzlich das Ploppen eines schweren Maschinengewehrs. Auf dem Hügel gegenüber, nicht weiter als tausend Meter entfernt, Sandfahnen, wo die Kugeln einschlagen. Ein anderes Maschinengewehr antwortet.

"Rechts steht die Da’isch, links die YPG, und vorne, am Bahndamm, sieht man die Grenze zu Syrien", sagt Wahid Kitkani, der aus dem kleinen Dorf stammt, dass man unten im Tal erkennt. Da’isch ist die arabisch-kurdische Bezeichnung für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), YPG heißen die Volksverteidigungskräfte der syrischen Kurden und Kobani eine syrische Kurdenenklave. Deshalb hocken hier zwei Dutzend Menschen unter den jungen Olivenbüschen, blicken durch Ferngläser und horchen gespannt auf jeden Schuss.

"Vor zehn Tagen kam die Da’isch, eroberte das alte Fort und griff unser Dorf Sorawa an", erläutert Wahid Kitkani. "Sie wollen den Hügel einnehmen." Die Front hier ist rund zehn Kilometer entfernt von der Hauptstadt des kurdischen Kantons Kobani, gegen die die IS-Miliz seit fast zwei Wochen eine Großoffensive führt. Die Islamisten eroberten dabei 60 Dörfer und stehen jetzt kurz vor Kobani. Wegen der Gefahr eines Massenmords evakuierten die Kurden seit letzter Woche mehr als 140.000 Einwohner in die Türkei, wo Flüchtlinge in Zeltlagern, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden Zuflucht fanden.

Wahid Kitkani, 44, Olivenbauer und im Nebenberuf Schmuggler, ist wie alle anderen Bewohner Sorawas vor einer Woche vor den Extremisten in das Nachbardorf Siwede in der Türkei geflohen, wo er jetzt auf dem Hügel sitzt. Hat er keine Angst, dass die Dschihadisten einmal statt auf die YPG auf die Schaulustigen im Olivenhain zielen? "Ach wo", winkt der stoppelbärtige Mann ab. "Das wagen sie nicht. Dann bekämen sie es ja sofort mit der Türkei zu tun."

Viel haben die Flüchtlinge nicht mitgebracht, ihr wertvollster Besitz sind ihre Kühe und Schafe, die sie durch die Minenfelder an der Grenze geschafft haben. "Dann haben wir den Grenzzaun durchschnitten und unsere Tiere gerettet", berichtet Adnan Hussein, ein junger Mann mit modisch gestutztem Vollbart und Löcherjeans. "Doch jetzt sind wir denen da ausgeliefert." Er weist auf eine Gruppe von Männern direkt neben dem Zelt, die erregt aufeinander einreden. "Sie feilschen um den Preis für unsere Tiere. Wir haben kein Futter mehr, wir müssen verkaufen." Umgerechnet rund 1000 Euro böten die Händler für eine Kuh - die Hälfte des normalen Preises.

Lage scheint aussichtslos

In seinem Dorf konnten sich die Bewohner retten, aber in Sorawa, wo sich jetzt die Islamisten verschanzen, seien nicht alle rechtzeitig weggekommen. "Auch zwei meiner Cousins wurden von der Da’isch gefangen genommen, Mustafa und Abdullah Miso, 17 und 14 Jahre alt", erzählt Adnan Hussein. "Wir konnten noch kurz am Telefon sprechen, dann beendete eine fremde Stimme das Gespräch. Wir haben seit zwei Wochen nichts mehr von ihnen gehört." Adnan Hussein sagt, die Da’isch seien für ihn "keine Menschen", schon gar keine Muslime. Anders als viele Gleichaltrige hat er sich dagegen entschieden, mit der YPG gegen den IS zu kämpfen. "Es ist aussichtslos. Die Kurden haben nur Kalaschnikows. Was sollen wir gegen Panzer ausrichten?" Wie seine Verwandten und Freunde hält er die Luftangriffe der USA für richtig. "Die sollen sie alle vernichten!", ruft er. Nur kämen die Attacken zu spät und nicht konsequent genug.

Die nächtlichen Bomben der US Air Force hatten den IS-Vormarsch am Donnerstag kurzzeitig gestoppt, die Front stand still, und die YPG konnte sogar einen Panzer unschädlich machen. Doch am Freitag rückte die Terrormiliz wieder vor. "Die Lage ist sehr schwierig, an vielen Orten wird gekämpft", sagt am Telefon aus Kobani Asya Abdullah, die Ko-Vorsitzende der in den syrischen Kurdengebieten regierenden Demokratischen Unionspartei (PYD), einer Schwesterpartei der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. "Noch steht die Front, aber sie ist gefährdet." Asya Abdullah wünscht sich deshalb eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern. "Wir wissen, wo die IS-Leute stehen, wir sind offen für einen Dialog."

Am Donnerstagmittag konnte man am türkischen Grenzübergang in Mürsitpinar etwa hundert syrische Kurden beobachten, die das türkische Militär und die Polizei aufforderten, sie wieder zurückzulassen - was diese nach einigem Palaver gestatteten. "Ich will lieber in meiner Heimat sterben, als hier im Schlamm zu leben", sagte Nadine Muhammed, die mit ihren Kindern und einem gewaltigen Haufen von Matratzen, Decken und Lebensmitteln vor der Sperre auf den Einlass wartete. Allerdings hatten Polizei und Militär strikte Order, nur Personen mit syrischem Ausweis über die Grenze zu lassen. "Der Staat kann seine eigenen Bürger nicht dem Risiko aussetzen zu sterben", erläutert in der Grenzstadt Suruc der lokale Vizechef der in der Türkei regierenden islamisch-konservativen AKP, Fethi Akaslan. "Außerdem steht Kobani unter Kontrolle der PKK. Wenn der Staat die Menschen hinüberlässt, könnte das als Unterstützung der PKK verstanden werden."

Schwere Vorwürfe gegen AKP

Vertreter aller drei Linksparteien werfen der AKP vor, Kobani den Islamisten zu opfern und jede militärische Hilfe für die eingekesselte Stadt zu verhindern, weil sie den säkularen Kurden schaden wolle. Auf die Vorwürfe entgegnet der AKP-Mann Fethi Akaslan, es sei schwierig für die Türkei, militärisch gegen die Islamisten vorzugehen, vor allem wegen des Risikos von Geiselnahmen. IS nennt er "eine Terrororganisation, Monster, bezahlte Mörder". Dann ergeht er sich in Verschwörungstheorien. Der Krieg in Syrien sei ein Kampf ums Öl, die CIA und andere Geheimdienste stünden dahinter, nicht zuletzt die Juden. Aber die Bombenangriffe der Amerikaner? "Darüber freuen wir uns." Dann sagt er, fast ein wenig verschämt: "Im Herzen finde ich es natürlich gut, dass die YPG für die Kurden kämpft. Auch wenn es nur innerlich ist und ich das öffentlich nicht äußere."

Klammheimliche Sympathie wird wohl nicht reichen, um Kobani zu retten. Am Freitagnachmittag meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass der strategisch wichtige Sorawa-Hügel von den Islamisten eingenommen wurde und zwei Granaten sogar auf türkischem Gebiet eingeschlagen seien. Wenig später verschickte die PYD-Führung einen dramatischen Appell an Nato und Europäische Union: Die Terrormiliz sei im Begriff, in die Vororte Kobanis einzurücken. Es sei nötig, schnell und dringend einzugreifen.