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Moral als Nebenkategorie

Von Ronald Schönhuber, Klaus Huhold, Thomas Seifert und Alexander Dworzak

Politik

Auf Hilfe aus der EU kann Aufdecker Edward Snowden nicht hoffen.


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Wien. Als Jürgen Trittin vor drei Tagen im ARD-"Morgenmagazin" auftrat, präsentierte er einen Vorschlag, der - wenn man die europäische Idee und die stete Betonung nicht zu diskutierender Grundwerte in Rechnung stellt - durchaus nachvollziehbar war. Jener Mann, der nach der Enthüllung des massiven Spionageprogramms der US-Nachrichtdienste auf der Flucht vor den amerikanischen Behörden ist, soll in Deutschland oder einem anderen europäischen Land Zuflucht gewährt werden. Edward Snowden hätte Europa einen Dienst erwiesen, indem er Europa einen massiven Angriff auf den europäischen Bürger offenbart hat, sagte der Fraktionsvorsitzende der deutschen Grünen. Für Demokratien sei es eigentlich peinlich, "dass jemand, der sich um die Demokratie ja verdient gemacht hat und einen massiven Grundrechtsverstoß aufgezeigt hat, bei Despoten Unterschlupf finden muss."

Es kam allerdings anders, als Trittin sich das gewünscht hat. Die EU-Staaten behandelten den 30-jährigen IT-Spezialisten, der über Hongkong nach Moskau geflüchtet war und dort seit Tagen am Flughafen im Transitraum festsitzt, wie eine heiße Kartoffel. Von den neun Asylanträgen, die Snowden in den Ländern der Union stellte, wurden alle entweder abgewiesen oder von offizieller Seite ignoriert.

Den Höhepunkt erreichte die europäische Besorgnis vor diplomatischen Zerwürfnissen schließlich in der Nacht auf Mittwoch. Nachdem Gerüchte aufgekommen waren, dass sich Snowden an Bord der kurz zuvor in Moskau gestarteten bolivianischen Präsidentenmaschine befindet, sperrten Spanien, Portugal, Frankreich und Italien kurzerhand ihren Luftraum. Präsident Evo Morales und sechs Kabinettsmitarbeiter mussten in der Folge einen unfreiwilligen Zwischenstopp in Wien einlegen. Der Flug konnte erst am Morgen fortgesetzt werden, nachdem österreichische Zollbeamte bei einer - nach heimischer Lesart - "freiwilligen Nachschau" in der Präsidentenmaschine keine Spur von Snowden entdeckt hatten.

Doch warum knicken die Europäer dermaßen vor den USA ein? Sollten die Europäer Snowden, der ja auch die massive Ausspähung von europäischen Botschaften und EU-Institutionen aufgedeckt hat, wenn schon nicht mit Handkuss dann doch mit offenen Armen empfangen? Immerhin war die Empörung in Europa nach Snowdens Enthüllungen quer durch alle politischen Lager enorm gewesen. Von "Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg" bis "nicht viel besser als China" reichten die Reaktionen. Da passt das nun so ängstliche Vorgehen nicht so wirklich ins Bild.

Beinhartes Kalkül

Doch die Empörung könnte laut Beobachtern auch teilweise nur Theaterdonner für die Bevölkerung gewesen sein. Denn zumindest Geheimdienste oder die Innenministerien größerer Staaten seien sich bewusst, dass das gegenseitige Ausspionieren auch unter befreundeten Staaten durchaus üblich ist.

Vordergründig haben die europäischen Staaten die Nichtaufnahme des amerikanischen IT-Spezialisten, der laut Anfrage der "Wiener Zeitung" noch nicht bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben ist, vor allem mit formalen Mängeln argumentiert. Asylanträge dürften nicht im Ausland gestellt werden, sondern müssten im Lande beantragt werden. Doch tatsächlich steht laut Experten wie dem Politologen Reinhard Heinisch von der Universität Salzburg, der auch viele Jahre in den USA lehrte, auch für die europäischen Staaten wohl ein interessenpolitisches Kalkül hinter ihren Überlegungen. Die Vorteile, die ein Land durch die Aufnahme von Snowden hätte, hat dieser schon verspielt. Man wisse nun über die Abhörpraktiken der USA schon Bescheid, sagt Heinisch. "Wieso sollte sich also ein einzelnes Land wegen des Herrn Snowdens mit den USA anlegen, wenn das offensichtlich niemand anders machen will?" Und dafür, dass Europa den USA im Fall Snowden gemeinsam die Stirn biete, sei die EU zu inhomogen, habe noch viel zu wenig eine gemeinsame Außenpolitik.

Zudem bräuchten die Europäer die global präsente Supermacht USA - etwa in der Politik gegenüber China oder Russlands. "Wenn beispielsweise die Regierung Moskau wieder Energielieferungen verweigert, wird sich Europa an die USA wenden. Derartige Dinge sind den Europäern wichtiger als der Fall Snowden", betont Heinisch. Er geht davon aus, dass die USA "an Snowden ein Exempel statuieren wollen. Denn es gibt ja viele Geheimnisträger in dem Land."

Um andere Länder zur Kooperation zu bewegen, bietet sich den USA jedenfalls eine ganze Reihe von Druckmitteln an. Diese beginnen laut Diplomaten bei simplen diplomatischen Noten, und die Skala ist bis nach oben hin offen. "Der Fall Snowden ist den USA offenbar sehr wichtig", urteilt Eva Nowotony, ehemalige österreichische Botschafterin in den USA. "Hier ziehen sie das ganze Register, das sie spielen können."

Doch müssen die USA überhaupt alle Druckmittel einsetzen? Oder agieren die europäischen Staaten nicht schon einfach aus vorauseilendem Gehorsam? So wurde zuletzt mehrfach darüber spekuliert, dass der Fall Snowden bei Verhandlungen über das zwischen Europa und den USA anvisierte Freihandelsabkommen Sand ins Getriebe bringen könnte.

Für beide Seiten steht dabei viel auf dem Spiel, vermutlich zu viel, um das Abkommen durch die Snowden-Affäre zu gefährden. Durch den Abbau von Zöllen und anderen Handelsschranken soll nach Berechnungen von Ökonomen das Bruttoinlandsprodukt in der EU um 0,5 Prozent steigen - in den USA um 0,4 Prozent.

EU als Juniorpartner

Europa scheint sich aber auch hier in einer schlechteren Verhandlungsposition zu befinden, nicht nur weil es von einem Freihandelsabkommen tendenziell mehr profitieren. "Würden die Europäer uns jetzt einen Korb geben, hätten wir immer noch die Möglichkeit, uns in Richtung Pazifik zu orientieren", sagt ein US-Experte aus dem Verhandlungskreis. "Die EU wird nicht riskieren, ihren größten Partner wegen einer Verstimmung in die Wüste zu schicken." Die EU-Kommission hat am Dienstag bereits erklärt, dass sie ungeachtet der Spionagevorwürfe am Start der Handelsgespräche festhält.

Dass der Fall Snowden nicht zu nachhaltiger Verstimmung führt, glaubt auch Anthony Dworkin vom European Council on Foreign Relations. "Es zeigt sich, dass es gewisse kulturelle Unterschiede in solchen Fragen zwischen den USA und den Europäern gibt. Der Fall Snowden wird die Diskussionen in verschiedenen kleinen Bereichen komplizieren. Aber die Sache wird die Beziehungen insgesamt nicht gefährden", sagt Dworkin. "Eines ist aber klar: Die Europäer werden in den kommenden Verhandlungen für mehr Datenschutz plädieren."