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Moral vor Recht?

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe hat Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Paris und Heidelberg studiert.

Deutschland steht vor der härtesten Prüfung seit langem. In der Flüchtlingsfrage zeigen sich gefährliche Auflösungserscheinungen des Rechtstaats.


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Darf man Flüchtlinge, die aus Krieg und Elend fliehen, einfach so abweisen? Kann man aus dem Grundrecht auf Asyl eine Obergrenze ableiten? Die Unionsparteien streiten wie die Kesselflicker über die Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. Angela Merkels Diktum "Wir schaffen das", an dem sie das Schicksal ihrer Kanzlerschaft geknüpft hat, stößt bei der Bevölkerung zunehmend auf Ablehnung. Die CDU rutscht in Umfragen ab, am rechten Rand trommeln die Scharfmacher von Pegida und der AfD gegen die Flüchtlingspolitik.

Nach den sexuellen Übergriffen in Köln, zu deren Täterkreis auch zahlreiche Asylbewerber rechnen, hat sich der Ton abermals verschärft, und die Bürger fragen sich: Wer kommt eigentlich ins Land? Lässt sich die massenhafte Migration überhaupt noch steuern?

In einem Rechtsgutachten stellt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio Kanzlerin Merkel ein vernichtendes Urteil aus. Di Fabio kommt darin zu dem Schluss, dass das Grundgesetz nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch eine "faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis" garantiere. Der Bund sei verpflichtet, "wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen", wenn das europäische Grenzsicherungssystem nicht funktioniere.

Mit seiner Kritik steht er nicht allein da. Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagte, die Flüchtlingskrise offenbare ein "eklatantes Politikversagen". Die Verfassungsrichter werfen der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise fortgesetzten Rechtsbruch und Missachtung des Parlaments vor. Das hat Gewicht.

Ein Staat, der nicht mehr darüber entscheiden kann oder will, wer auf seinem Territorium lebt, verliert eines seiner konstituierenden Merkmale, nämlich die Kontrolle über das Staatsgebiet. Durch das bedingungslose Öffnen der Grenzen hat Merkel zentrale Elemente des Rechtsstaats ausgehebelt: Vertragstreue (Schengen- und Dublin-Abkommen sind faktisch außer Kraft gesetzt), den Vorbehalt des Parlaments und das Demokratieprinzip.

Die Kanzlerin beruft sich auf eine Art übergesetzlichen Notstand, einen "humanitären Imperativ", der - so impliziert die Formulierung - etwaige Rechtsverletzungen rechtfertigt. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wer ethische über gesetzliche Normen stellt, riskiert den Bruch der Rechtsordnung. Wer definiert, was humanitär ist? Ein Imperativ ist antidemokratisch, weil er der Logik des Befehls gehorcht. An die Stelle der Rechtskultur tritt eine Gesinnungsethik.

In der Flüchtlingskrise zeigen sich noch andere Auflösungserscheinungen des Rechtsstaats. Nach den Ereignissen von Köln bilden sich in den Städten Bürgerwehren, die Frauen in der Nacht vor Übergriffen schützen wollen. Die Bürger fühlen sich offensichtlich nicht mehr von der Polizei geschützt - sie haben das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates verloren. Dabei sind diese Bürgerwehren rechtlich allenfalls zur Notwehr befugt - und nicht zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung. Das ist die genuine Kompetenz der Polizei. Die Folge: Das Gewaltmonopol des Staats erodiert. Wenn bald stiernackige Männer mit Schlagstöcken durch deutsche Städte patrouillieren, hat die Politik auf ganzer Linie versagt.