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Moralisieren beseitigt keine Armut

Von Fritz Rubin-Bittmann

Gastkommentare
Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren und überlebte als "U-Boot". Er ist Arzt für Allgemeinmedizin (2016 mit dem Berufstitel Professor ausgezeichnet) und hat zu Zeitgeschichte und Religionsphilosophie publiziert.
© Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Im Umgang mit den Staaten des Westbalkans zeigt sich wieder einmal, dass die EU ihre eigenen Werte allzu leicht vergisst.


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Im heurigen März hat die große Mehrheit der EU-Staaten grünes Licht für Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien gegeben, nun wurde dies noch einmal verstärkt. Nur Bulgarien legt sich immer noch mit einem Veto quer. Zur politischen Situation am Westbalkan hat jüngst Franz Schausberger, ein profunder Kenner der Balkanstaaten und hervorragender Historiker, in der "Wiener Zeitung" einen ausgezeichneten Gastkommentar verfasst - eine Analyse, die ein langjähriges Versagen der EU in diesem Gebiet offenlegt.

Als Politiker und Historiker hat er diesen Prozess akribisch thematisiert und dokumentiert. Mit einem Wort von Bertolt Brecht könnte man die Quintessenz seines Textes so zusammenfassen: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral." Es sei bemerkt, dass Brechts Wort zwar nicht für alle Menschen, aber doch für die Mehrzahl gilt.

Was läuft schief in der EU? Was benötigen die Balkanstaaten? Die EU ist eine Interessengemeinschaft europäischer Staaten, aber sie ist nicht Europa. Die EU ist kein Staatenbund und auch kein Bundesstaat; sie definiert sich über ihre wirtschaftliche Macht. Man könnte sagen: Sie ist noch immer ein wirtschaftlicher Riese aber ein außenpolitischer Zwerg, der sich seiner demokratischen und humanistischen Werte voller Eigenlob rühmt, diese aber im entscheidenden Moment immer wieder vergisst.

Die derzeitige Generation der führenden EU-Politiker beherrscht meisterlich die Kunst des Moralisierens, überbietet sich in "political correctness", kennt alle Feinheiten des Genderns und hat mit sexueller Diversität bereits 77 verschiedene Geschlechter erfasst. Als "dernier cri" der EU-Politik verkündete jüngst die maltesische EU-Kommissarin mit ihrem Vorschlag, das Weihnachtsfest abzuschaffen, ebenso die Namen Josef und Maria, ein weiteres Novum absurden politischen Verhaltens. Die Gefühle von Muslimen, Juden, Atheisten und Andersgläubigen sollten laut ihrem Vorschlag nicht verletzt werden.

Die EU befleißigt sich auch im Kampf gegen Rassismus, Faschismus und Antisemitismus. Dass das von ihr propagierte Bild des bösen, weißen, alten Mannes, der an all dem schuld sei, selbst vorurteilsbehaftet und rassistisch ist, wird dabei geflissentlich übersehen. Derzeit bietet die EU das Bild einer Gesellschaft, die im Niedergang begriffen ist. Sie ist unfähig, die Probleme ihrer Zeit zu lösen.

Seit jeher ein Unruhegebiet

Die Staaten des Balkans benötigen wirtschaftliche Hilfe für eine verarmte Bevölkerung, deren Lebensbedingungen verbessert werden sollten. Mit Moralisieren kann man wirtschaftliche Armut nicht beseitigen, aber auch hinsichtlich des Moralisierens geriert sich die EU heuchlerisch: Für die Verletzungen der Menschenrechte Chinas hat sie lediglich "ein moralisches Skotum".

Der Balkan galt seit jeher als ein Unruhegebiet - nicht zuletzt historisch bedingt durch eine 400-jährige osmanische Okkupation. In Bosnien, (Nord-)Mazedonien, Bulgarien, Albanien, Montenegro und insbesondere der Herzegowina war der Islamisierungsprozess besonders stark. Der Balkan - auf Türkisch "bewaldeter Bergabhang" - zeigt viele ethnische, sprachliche und konfessionelle Gegensätze diverser Minderheiten, die heute fast vergessen sind. Er war zu Zeiten der Monarchie das Pulverfass Europas und letztlich Auslöser des Ersten Weltkrieges.

Cum grano salis ähneln die heutigen Probleme am Balkan jenen zu Zeiten der k.u.k. Monarchie. Politisch gesehen war die Zusammenfassung der Balkanstaaten zu einem historischen Gebilde namens Jugoslawien der richtige Weg zur Stabilität in dieser Region. Marschall Josip Broz Tito führte den Vielvölkerstaat mit harter Hand. Der ehemalige Soldat der k.u.k. Armee war später ein Verbündeter Josef Stalins und des Westens im Kampf gegen Adolf Hitler; er forcierte einen Kommunismus sui generis.

Aus demokratischer Sicht hat Tito den richtigen Weg mit den falschen Methoden beschritten: Er konnte die Balkanstaaten stabilisieren; nach seinem Tod 1980 zerfiel das Staatengebilde, was neuerlich Unruheherde schuf, gekennzeichnet durch ethnische Konflikte, Verfolgungen, Kriege mit tausenden Toten und hunderttausenden Verletzten. Franjo Tudjman war kroatischer Nationalist, sein Gegenmeister Slobodan Milosevic ultranationalistischer Serbe. Serbien und Kroatien bekämpften einander, und beide führten Krieg gegen die muslimische Bevölkerung in den Balkanregionen. Erst das Eingreifen der USA konnte wieder ein instabiles, politisch-regionales Gleichgewicht schaffen. Dies um den Preis der Bombardierung Belgrads 1999 - erstmals griff damals die Nato in Europa militärisch ein.

Düpierte Beitrittskandidaten

Slowenien wurde 2004 in die EU aufgenommen, Kroatien 2013, auch wenn beide die vorgegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen damals nicht ganz erfüllten. Diese Beitritte haben sich wirtschaftlich und politisch als richtig erwiesen. Die Beitrittskandidaten am Westbalkan fühlen sich von der EU düpiert und stehen unter dem wachsenden Einfluss Chinas und Russlands. China baut in Montenegro gigantische Straßen, Russland zeigt den slawischen Staaten seine traditionelle Schirmfunktion, und die Türkei nimmt die Muslime am Balkan unter ihre Fittiche. Riesige Landstriche am Balkan wurden von Saudi-Arabien aufgekauft, und in zahlreichen Dörfern weht sogar die schwarze Flagge des IS.

Die Menschen profitieren insofern von der Unterstützung arabischer Staaten, als jede Frau 400 Dollar monatlich erhält, wenn sie sich verschleiert in der Öffentlichkeit zeigt; jeder Mann erhält 400 Dollar, wenn er regelmäßig die Moschee besucht. In Montenegro wurde in Analogie zu Dubai im Meer eine riesige Zementinsel für Domizile reicher Araber gebaut, die der glühenden Hitze das kühlere und regenreichere Balkangebiet vorziehen. All dies geschieht mit Wissen, Billigung und Tatenlosigkeit der EU.

Franz Grillparzers Wort "Auf halben Wegen und zu halber Tat" wäre auf die Politik der EU übertragen eine ungerechtfertigte Lobhudelei. Die EU hat am Balkan zu wenig im positiven Sinn geleistet. Sie hätte das politische Wagnis einer zumindest wirtschaftlichen Stabilisierung eingehen sollen. Wer wagt, gewinnt! Es darf daher nicht wundern, wenn die nicht erfüllten Hoffnungen einer gigantischen Enttäuschung gewichen sind. In der Politik geht es dem Namen nach um das Gemeinwesen, das Wohl der Allgemeinheit. Folgen den schönen Worten keine Taten, wird dieses Wohl nicht erreicht. Die Worte bleiben schön, die Taten aber schlecht.