Kleine, aber lautstarke Interessensgruppen verhindern notwendige Reformen. | Immer wenn die Mängel des österreichischen Bildungssystems besonders drastisch zu Tage treten, bringen die Koalitionsparteien ihre ideologischen Ladenhüter in Stellung.
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Ende des Jahres war es wieder einmal so weit. Wer glaubt, das Pisa-Debakel hätte sie zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung motiviert, kennt die Usancen dieses Landes nicht, wo man erst dann zu Höchstform aufläuft, wenn Haxlstellen und Wadlbeißen am Programm stehen. Aber auch als gelernter und leidgeprüfter Österreicher ist man schockiert über das Argumentationsniveau der ÖVP. Schuld an der Leseschwäche der 15-Jährigen, so der bauernschlaue Josef Pröll, sei die Gesamtschule. Denn Lesen lerne man doch in der Volksschule, und da gibt es noch keine Schultypendifferenzierung.
Natürlich weiß Pröll, dass das Unsinn ist, denn die Lesekompetenz 15-Jähriger wird in der Sekundarstufe I weiterentwickelt. Aber was tut man nicht alles, um einer unhaltbaren Position Scheinplausibilität zu verleihen. Schließlich argumentiert auch die SPÖ nach dem Muster: Weil sich der eingeschlagene Weg als Sackgasse erwiesen hat, halten wir um so starrsinniger an ihm fest. Dass die blinden Flecken der SPÖ andere Baustellen des Bildungssystems betreffen, erleichtert die Sache nicht, sondern bewirkt den totalen Reformstau - sowohl in der Schul- wie in der Hochschulpolitik. Keines der beiden Lager kann seine Ziele umsetzen, aber mit morbider Lust behindern sie sich wechselseitig.
Schaukämpfe
Und dieser Reformstau wird von heftigem Theaterdonner begleitet. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt aber, dass die beiden Lager allen Schaukämpfen zum Trotz viel gemeinsam haben. Beide sind mental im Standesdenken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. In seiner konservativen Variante tritt es als hochmütiger Standesdünkel auf, in seiner sozialdemokratischen Variante als trotziger Anspruch, an den Privilegien des Bildungsstandes teilzuhaben. Werfen wir einen Blick darauf, wie die beiden Lager mit verteilten Rollen Bildungspolitik als Standespolitik betreiben.
Die Standesschranke im österreichischen Bildungsgefüge ist die Matura und die damit verknüpfte allgemeine Studienberechtigung. Wer darüber verfügt, zählt zu den Gebildeten, die sich von den "bildungsfernen Schichten" nicht nur durch reale Kompetenzen, sondern mehr noch durch Habitus und Mentalitätsunterschiede abgrenzen. In ihrem Weltbild gibt es keine graduellen Bildungsunterschiede, sondern die Gesellschaft zerfällt in zwei homogene Gruppen - in Gebildete und Ungebildete.
Bildungskapital
Um diese Standesordnung zu erhalten, muss der Zugang zur gehobenen Bildung kontrolliert und knapp gehalten werden. Als Gatekeeper fungiert die Langform des Gymnasiums. Die verfrühte Schultypendifferenzierung leistet den bildungsbürgerlichen Kernschichten unschätzbare Dienste bei der Vererbung von Bildungskapital. Sie schafft ideale Bedingungen für eine Selbst- und Fremdselektion derer, die nicht in den gehobenen Bildungsstand passen.
Die Trennung Zehnjähriger in Schultypen unterschiedlichen Anspruchniveaus verstärkt jene Selektionswirkungen, die Soziologen als "sekundäre Herkunftseffekte" bezeichneten. Die Bildungsschichten schätzen die Erfolgsaussichten ihrer Kinder immer höher ein als Eltern, die selbst über keine höhere Bildung verfügen. Und zwar selbst dann, wenn die Noten oder Testwerte des gehobenen Nachwuchses schlechter sind. Daher gehen unter sonst gleichen Bedingungen die Kinder gebildeter Eltern viel häufiger ins Gymnasium.
Bildungsexpansion
Neben diese Selbstselektion tritt die Fremdselektion in Form einer Schulkultur, welche auf Probleme schwacher Schüler - die überwiegend aus bildungsfernen Familien kommen - mit Klassenwiederholung und Abschieben in die Hauptschule reagiert. Das unterscheidet unsere Gymnasien von der Lernkultur guter Gesamtschulsysteme, die schwachen Schülern besondere Unterstützung bieten (weil diesen Schulen die Option des Abschiebens gar nicht zur Verfügung steht).
Die Langform des Gymnasiums konnte die Bildungsexpansion zwar bremsen, aber nicht verhindern. Der Anteil der Volksschüler, die in die AHS übertreten, steigt von Jahr zu Jahr. Doch diese Expansion wurde von keiner Strukturreform begleitet. Die strukturkonservative Bildungsexpansion war fatal für die Hauptschulen. Diese wurden früher von der überwiegenden Mehrheit einer Alterskohorte besucht. Heute ist sie Aufbewahrungsstätte für die "Kellerkinder der Bildungsexpansion". Die soziale Distanz zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten ist enorm angewachsen. Aus einem sozial relativ gut durchmischten Schultyp hat sich die Hauptschule zumindest in den Städten in eine homogene Restschule verwandelt, in der die Lernumwelt verarmt, weil die Kinder der Unterschichten unter sich bleiben.
Differenzierung
Paradoxe Folgen hat die strukturkonservative Expansion auch für die Gewinner der Bildungsverteilung. Der Anteil der Maturanten an der Alterskohorte ist im letzten halben Jahrhundert massiv gewachsen, von 5 (1960) auf mittlerweile 40 Prozent. Das ist ein großer sozialer und wirtschaftlicher Gewinn für das Land. Problematisch ist aber der Umstand, dass diese Gruppe, die immer heterogener wird, studienrechtlich nach wie vor als homogener Bildungsstand behandelt wird. Die Rede ist vom offenen Hochschulzugang, dem Privileg dieses Standes.
Warum ist das ein Problem? Weil der offene Zugang die - dringend nötige - Expansion des Hochschulbereiches behindert. Ohne verstärkte vertikale und horizontale Differenzierung ist diese Expansion nicht möglich.
Wunschfantasie
Die Steigerung der Akademikerquote ist kein Selbstzweck, sondern soll ein Angebot an qualifizierten Absolventen für jene Forschungs- und Beschäftigungsbereiche schaffen, in denen es Bedarf gibt. Um darauf reagieren zu können, benötigen die Hochschulen Steuerungsmöglichkeiten. Mit den politischen Entscheidungsträgern einigen sie sich auf Ausbildungskontingente, und im Rahmen dieser Kontingente nehmen sie ihre Studierenden auf. Das ist keine elitäre Wunschfantasie, sondern Praxis in fortgeschrittenen Wissensgesellschaften.
Österreichische Unis können davon nur träumen. Der offene Hochschulzugang verhindert jede Form der Steuerung und verursacht desolate Bedingungen in den Massenstudien. Dieser offene Zugang ist die Fortsetzung strukturkonservativer Bildungsexpansion im tertiären Bereich. Er wird - mit egalitären Phrasen - am heftigsten von denen verteidigt, die sich den Zutritt zum Bildungsstand erkämpft haben und nun darauf beharren, dass an Privilegien dieses Standes nicht gerüttelt wird.
Massenfächer
Österreich ist an einem paradoxen Punkt angelangt. Auf der einen Seite bewirkt das Standesdenken, dass viele Jugendliche vom zeitgemäßen Bildungsminimum ausgeschlossen sind. Auch bei der Akademikerquote hinkt Österreich hinterher. Aber in dem Ausmaß, in dem Expansion stattfindet, verursacht das Standesprivileg des offenen Zugangs anomische Zustände an den Universitäten.
Im vergangenen Jahrzehnt haben sich diese Widersprüche zugespitzt und sind zugleich breit sichtbar geworden. Pisa hat die Leistungsschwächen unserer Sekundarschule aufgedeckt. Das Elend der Massenfächer an den Universitäten hat sich von Jahr zu Jahr verschärft.
Pattsituation
Noch etwas ist in diesem Jahrzehnt geschehen: Die Kluft zwischen den Vertretern ständischer Bildungskonzepte und dem Rest der Gesellschaft ist gewachsen. In den meinungsbildenden Schichten - Medien, Experten, Interessensorganisationen - hat sich ein breiter Konsens durchgesetzt, dass weder die konservative noch die sozialdemokratische Bildungsideologie den Modernisierungserfordernissen gerecht wird. Zudem ist es offenkundig, dass sich keines der beiden Lager vollständig durchsetzen wird, dass also zu einer Überwindung der Pattsituation Kompromisse nötig sind. Auch von der Mehrheit der Bevölkerung wird diese Sichtweise geteilt.
Es sind zahlenmäßig kleine, aber artikulationsfähige Gruppen, die sich dem widersetzen. In der Schulpolitik die AHS-Lehrergewerkschaft, in der Hochschulpolitik Teile der Studentenorganisationen. Durch eine Allianz mit den Dogmatikern beider Lager erhalten diese Gruppen eine Vetomacht, die Reformen blockiert. Für die Zukunftsfähigkeit Österreichs ist es wichtig, diese Allianz durch eine parteienübergreifende Reformpolitik zu brechen. Sie müsste von Bewusstsein getragen sein, dass auch in der Bildungspolitik das Abwägen von Zielkonflikten wichtiger ist als das kompromisslose Beharren auf absoluten Idealen. n
Hans Pechar ist Leiter des Bereichs Hochschulen in der Wissensgesellschaft an der Universität Klagenfurt.