Haitis Präsident Jean-Bertrand Aristide sitzt nach dem niedergeschlagenen Putschversuch wieder fest im Sattel. Die Pfründe sind gerettet. Die Rachezüge gegen die Opposition übernimmt das Fußvolk - die mittellosen Anhänger seiner Lavalas-Bewegung dürfen deren Büros niederbrennen und meuternd durch die Straßen ziehen.
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Wenige Stunden, nachdem am Montag Polizisten den Nationalpalast wieder unter ihre Kontrolle gebracht und 32 bewaffnete Putschisten in die Flucht gejagt hatten, versammelten sich die getreuen Gefolgsleute des einstigen Armenpriesters Aristide und errichteten vor dessen Amtssitz brennende Straßensperren. Anschließend zogen sie, mit Macheten bewaffnet, durch die herabgekommenen Gässchen der Hauptstadt Port-au-Prince zum Sitz des Oppositionsbündisses Convergence und brannten es nieder. Auch das französische Kultutinstitut ein paar Häuserecken weiter überstand den versuchten Staatscoup nicht - es wurde ebenfalls Opfer der Flammen. In der Stadt Gonaives zündeten die Lavalas-Banden das Haus von Oppositionsführer Luc Mesadieu an und töteten zwei Personen, die sich gerade darin aufhielten.
In der Regierung fällt diese Art der Selbstjustiz auf wohlwollendes Verständnis. "Die Menschen sind empört, und solche Dinge lassen sich schwer vermeiden", meinte etwa Kommunikationsminister Guy Paul, freilich ohne zu erwähnen, dass die "Convergeance" (zu Deutsch "Übereinstimmung") mit dem Putschversuch nichts am Hut hat. Regierungkreise räumen dies selbst ein, indem sie den ehemaligen Polizeichef von Cap-Haitien, Guy Philippe, beschuldigen. Dieser lebt in der Dominikanischen Republik, seit er im vergangenen Jahr in Haiti wegen Verschwörung und Gefährdung der inneren Sicherheit angeklagt worden war. Ob er tatsächlich etwas mit der jüngsten Palastrevolution zu tun hat, bleibt offen, er selbst jedenfalls bestritt dies gestern vehement.
Es gibt in Haiti Stimmen, die vermuten, die Regierung selbst hätte die Unruhen initiiert, um vor der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung abzulenken. Angedeutet hat dies etwa der in Haitis Intellektuellenkreisen äußerst populäre Politiker Gerard Gorgue. Ob es stimmt oder nicht - ein willfähriges Argument, gegen die Opposition vorzugehen, sind die Nachrichten über die Sturzgefahr des Präsidenten allemal.
Die Oppositionsgruppen, die sich seit den Parlamentswahlen im Jahr 1999 wegen offenkundigen Wahlbetrugs um ihre demokratischen Rechte geprellt fühlen und daher die Präsidentenwahl 2000 boykottierten, erklärten sich Ende Jänner - in Anlehnung an die Französische Revolution - zu den "Etats Generaux" (Generalständen), also den Vertretern des ganzen Volkes. Sie wollten sogar eine Gegenregierung ausrufen. Doch fehlt den meist von sozialdemokratischen Intellektuellen aus der oberen Mittelschicht geführten Gruppen der Rückhalt unter den analphabetischen Volksmassen. Diese glauben nach wie vor an Aristide, der seit Februar (mit Unterbrechungen) seine dritte Amtszeit durchläuft.
Bisher hat er den Massen des ärmsten Landes Lateinamerikas wenig geboten, außer das Versprechen, nach den Jahren der blutigen Duvalier-Diktatur und weiterer Junta-Intermezzi endlich Frieden, Wohlstand und Demokratie zu bringen. Bis heute ist Haiti in puncto Demokratie nicht einmal so weit vorangekommen, dass die internationale Staatengemeinschaft ihr Embargo aufzuheben bereit wäre. Vor allem Morde an Journalisten und Oppositionellen gehören in Haiti auch zehn Jahre nach der ersten Präsidentschaft des 48-Jährigen zum Alltag.
Am 3. Dezember wurde der 26-jährige Reporter von "Radio Echo", Brignol Lindor, brutal ermordet. Er war bei der Stadt Petit-Goave aus seinem Auto gezerrt, gesteinigt und mit Macheten zu Tode gehackt worden. Bekannt hat sich zu der Tat die Aristide nahe stehende "Dormi Nan Bois". Die Gruppe hatte gemeinsam mit dem Bürgermeister Lindor zuvor bedroht, weil dieser zu seiner wöchentlichen Radio-Talkshow auch mal Oppositionspolitiker eingeladen hatte. Im April 2000 war mit Journalist Jean Leopold Dominique eine der kritischsten Stimmen des Landes durch einen Mordanschlag zum Schweigen gebracht worden. Der 69-Jährige war weit über Haiti hinaus als Verfechter der Demokratie in dem bitterarmen Karibikland bekannt. Nach seinen Mördern hat niemand gefragt. Auch Aristide schweigt zu solchen Taten. Böse Zungen behaupten, er sei mit der Selbstbereicherung derart beschäftigt, dass er keine Worte mehr findet.