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Mord an einem Lebensretter?

Von Peter Holubar

Wissen

Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg, der Tausenden Juden das Leben rettete, wurde 1945 in die Sowjetunion verschleppt. Auch heuer, zu seinem 100. Geburtstag, sind die Umstände seines Todes noch unklar.


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Am 8. Dezember 1941 erklärten die USA dem Kaiserreich Japan den Krieg. Drei Tage später erfolgte die Kriegserklärung an Deutschland und Italien. Die USA waren damit nach langem Zögern in den Zweiten Weltkrieg eingetreten.

Bereits 1941 gab es erste Berichte über deutsche Massenmorde und die Shoa. Und im August 1942 informierte der Büroleiter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, Gerhard M. Riegner, London und Washington in einem dramatischen Telegramm über die sogenannte "Endlösung". Das US-Außenministerium und das britische Foreign Office hielten das damals noch für ein wildes Gerücht.

Auf Rat seines Finanzministers, Henry Morgenthau Jr., richtete Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1944 das War Refugee Board (Komitee für Kriegsflüchtlinge) ein. Darin waren das Finanz-, Innen- und Kriegsministerium gleichermaßen vertreten. Aufgabe des Komitees war es, möglichst viele Menschen der Verfolgung durch die Nazis zu entziehen. Es arbeitete erfolgreich mit jüdischen Organisationen, Diplomaten neutraler Staaten und Widerstandsgruppen in Europa zusammen, um Flüchtlinge zu retten. Man schätzt, dass mit diesen Maßnahmen 200.000 Menschen das Leben gerettet wurde.

Von den vielen ungenannten Helfern sticht das tragische Schicksal des Schweden Raoul Wallenberg besonders hervor.

Ein Mitfühlender

Raoul Wallenberg wurde am 4. August 1912 in eine einflussreiche schwedische Familie von Bankern, Diplomaten, Bischöfen und Künstlern hineingeboren. Sein Vater erlebte allerdings seine Geburt nicht mehr. Er starb jung, drei Monate vor der Geburt Raouls und nach nur acht Monaten Ehe. Drei Monate nach seiner Geburt starb auch sein Großvater unerwartet an einer Lungenentzündung. Die beiden Witwen, Mutter und Großmutter, konzen-trierten ihre Liebe auf den kleinen Raoul. Seine Halbschwester Nina Lagergren meinte später, er hätte als Kind so viel Liebe erhalten und gegeben, dass er zu einem ungewöhnlich großzügigen, liebenden und mitfühlenden Menschen herangewachsen sei.

Unterstützt von seinem zweiten Großvater, einem Diplomaten, erhielt Raoul eine exzellente Ausbildung. Er sprach mehrere Sprachen, darunter auch Deutsch und Russisch. Nach Schulabschluss und dem Militärdienst in Schweden ging er nach Paris, danach kam er in die USA nach Ann Arbor und studierte an der University of Michigan Architektur. Als er 1935 graduierte, war sein Studienkollege der zukünftige US-Präsident Gerald Ford. Auf Wunsch des Großvaters nahm Wallenberg eine Stellung in Südafrika an, um dort das Bankgeschäft zu erlernen. 1936 wechselte er zur Holland Bank nach Haifa, im damaligen Palästina. Hier hatte er zum ersten Mal Kontakt mit Juden, die vor dem Nazi-Terror geflohen waren. Ab 1939 arbeitete Wallenberg in Stockholm für den ungarischen Flüchtling Koloman Lauer, den Besitzer einer internationalen Handelsfirma. In dieser Funktion bereiste Wallenberg verschiedene von der Wehrmacht besetzte Gebiete und auch das mit Deutschland verbündete Ungarn.

Am 9. Juli 1944 war der nun 32-jährige Wallenberg, erschüttert von den Berichten und Erlebnissen der Judendeportationen in Ungarn, als Erster Sekretär der schwedischen Gesandtschaft nach Budapest gekommen. Wahrscheinlich wurde er, auf Empfehlung des Oberrabbiners von Stockholm, Marcus Ehrenpreis, von einem Schweden namens Ivar Olsen für diese Aufgabe angeworben. Olsen war der Repräsentant des War Refugee Board in Schweden, aber auch hochrangiger Führungsoffizier des militärischen US-Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services), des Vorgängers der CIA. Diese Doppelfunktion Olsens könnte später Wallenberg zum Verhängnis geworden sein.

Um 1937 lebten in Ungarn etwa 445.000 Juden, deren Zahl aber durch die Vertreibungen in anderen besetzten Gebieten auf rund 750.000 angestiegen war. Als Wallenberg in Budapest ankam, waren, unter der Leitung von Adolf Eichmann, bereits etwa 400.000 Juden in die Vernichtungslager nach Polen deportiert worden. Wallenbergs Auftrag war es, die verbliebenen ungarischen Juden zu retten. Mit Unterstützung der schwedischen Regierung und des War Refugee Boards gelang es ihm, Tausende schwedische Schutzpässe auszustellen.

Hatte die Schwedische Gesandtschaft bis zu seinem Eintreffen insgesamt etwa 650 Schutzpässe für Juden ausgestellt, so waren es nach kurzer Zeit seines Wirkens mehr als 8000 Pässe. Diese wurden von den ungarischen und deutschen Behörden akzeptiert. Die Dimensionen seiner Aktivitäten wurden allerdings selbst dem schwedischen Außenministerium unheimlich.

Die Schutzhäuser

Ab 8. November 1944 sollten die verbliebenen 75.000 arbeitsfähigen Juden als Zwangsarbeiter in das 240 km entfernte Reichsgebiet verbracht werden, um im besetzten Österreich den Südostwall zu errichten. Da Transportmittel fehlten, wurden daraus gnadenlose Todesmärsche. Wallenberg, aber auch Vertreter des Roten Kreuzes und der Schweiz versuchten, den Menschen mit Nahrung, Kleidung und Decken zu helfen. Wallenberg, dessen Wagen exterritoriales Gebiet war, fuhr mit seinem Chauffeur die Kolonnen der Gefangenen ab und rettete unter großer persönlicher Gefahr viele Menschen aus den Fängen der Nazis.

Gemeinsam mit dem Schweizer Gesandten Carl Lutz organisierte Wallenberg 32 sogenannte schwedische Schutzhäuser, die mit ähnlichen Einrichtungen Spaniens, rund um die Große Synagoge in Budapest, das Internationale Ghetto bildeten. In dieses Ghetto konnten sich insgesamt etwa 30.000 Menschen vor dem Nazi-Terror retten. Wenn Wallenberg von Übergriffen der Pfeilkreuzlerbanden auf die Schutzhäuser hörte, versuchte er persönlich vor Ort die Taten zu verhindern. Sein einziger Schutz dabei war sein Diplomatenstatus.

Im Gebäude der heutigen österreichischen Botschaft in Budapest, in der Benczúr utca 16, fand Raoul Wallenberg ab 11. Jänner 1945 Zuflucht vor den Nationalsozialisten und den ungarischen Pfeilkreuzlern. Wallenberg und sein Chauffeur Vilmos Langfelder wurden am 13. Jänner 1945 aus dem Wagen heraus in sowjetische Obhut und vier Tage später offiziell von der Roten Armee in Gefangenschaft genommen. Selbst sagte er zu Rot-Kreuz Mitarbeitern, er wisse nicht, ob er Gast oder Gefangener in der Sowjetunion sein werde. Erst 1993 wurde bekannt, dass der damalige Vize-Verteidigungsminister Bulganin angeordnet hatte, Wallenberg wegen des Verdachts auf Spionage für die USA nach Moskau zu bringen.

Wallenbergs Kontakt mit dem bekannten OSS-Offizier Olsen war zu verdächtig. Die Sowjets waren 1945 überzeugt, dass Wallenberg unter dem Deckmantel der Rettung der Juden für die USA spionierte. Lars Berg, ein Kollege Wallenbergs in Ungarn, wurde ebenfalls vom russischen Geheimdienst SMERSH, dem Vorläufer des KGB, verhört. Er meint, es sei den Sowjets unverständlich gewesen, dass der schwedische Kapitalist Wallenberg sein Leben riskierte, um ungarische Juden zu retten.

Der rätselhafte Tod

Als Olsen 1955 von der CIA zum Fall Wallenberg befragt wurde, bestritt er allerdings, dass dieser im Krieg für die USA spioniert hätte. Problematisch könnte aber auch gewesen sein, dass sich unter den beschlagnahmten persönlichen Besitztümern Wallenbergs ein Notizbuch fand, in dem Pläne für eine zukünftige Wiedererrichtung der Jüdischen Gemeinde in Budapest zu finden waren. Pläne, die den Intentionen der Sowjets unter Umständen zuwiderliefen.

In der Lubjanka, dem berüchtigten NKWD-Gefängnis in Moskau, verliert sich die Spur Wallenbergs und die seines Chauffeurs Langfelder. Höchstwahrscheinlich wurden beide Mitte 1947 ermordet. Allerdings fälschte der Geheimdienst immer die Sterbedaten von Häftlingen, sodass es bis heute keine Klarheit über das Schicksal der beiden gibt.

Im Jahr 2010 schrieb der Leiter des "Archivs des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Födera- tion FSB" an die Internationale "Raoul Wallenberg Foundation" sinngemäß, dass sowohl zu Wallenberg, als auch zu Vilmos Langfelder keine Dokumente gefunden worden wären. Es sei aber aus der Zeit des Massenterrors in der Sowjet-Ära bekannt, dass die Leichen von Exekutierten und im Gefängnis Verstorbenen kremiert wurden und die Überreste am Donskoy-Friedhof in Moskau beigesetzt wurden. Es sei wahrscheinlich, dass Wallenbergs und Langfelders Asche sich ebenfalls in diesem Massengrab befänden. Wallenbergs Familie und die internationale Gemeinschaft verlangen immer noch Aufklärung über sein Schicksal.

Appell an Russland

Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, nutzte seine Eröffnungsrede anlässlich der Konferenz für Demokratie und Menschenrechte am 28. 6. 2012 in Budapest, um von Russland Aufklärung über Wallenbergs wahres Schicksal zu fordern. Wie in den 1930er Jahren drohe Europa eine ökonomische Krise, meinte der Generalsekretär, mit Rezession und hoher Arbeitslosigkeit. Wieder würden viele Menschen Zuflucht suchen in Populismus, Fremdenhass und extremem Nationalismus. Gerade in solchen Zeiten, sei es wichtig, die Erinnerung an Frauen und Männer wie Wallenberg lebendig zu halten.

Jagland richtete an Russland den Appell: "Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion müssen noch Beweise für das Schicksal Wallenbergs sein. Ich appelliere an jeden, der zu diesen Beweisen Zugang hat, diese ans Licht zu bringen!" Am 4. August wird der 100. Geburtstag Wallenbergs international begangen.

Peter Holubar, geboren 1962, lebt als Wissenschafter und freier Journalist in Wien.