Ein Jahr nach den tödlichen Schüssen auf die Linkspolitikerin Marielle Franco verhaftet Brasiliens Polizei zwei mutmaßliche Täter. Beide weisen Verbindungen zur Präsidentenfamilie auf.
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Rio de Janeiro. Das Timing hatte Symbolkraft. Genau ein Jahr nach dem Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco hat Rio de Janeiros Polizei überraschend zwei Tatverdächtige präsentiert. Offenbar wollte sie dem Vorwurf der Untätigkeit zuvorkommen. Der mutmaßliche Schütze, der Franco mit vier gezielten Schüssen in den Kopf traf, ist Polizist im Ruhestand. Der 48-jährige Ronnie Lessa war als Auftragskiller tätig und handelte offenbar mit Waffen. An einer seiner Adressen fand die Polizei 117 neue M-16-Gewehre aus US-amerikanischer Fabrikation. Der Fahrer des Tatfahrzeugs war ebenfalls Militärpolizist, wurde aber 2015 wegen verschiedener krimineller Aktivitäten entlassen.
Die Personalien der beiden sorgten nicht nur wegen ihrer Verbindungen zu Rios Polizei für Aufsehen. Beide haben auch Berührungspunkte mit Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro und seinem Clan. Die Tochter von Ronnie Lessa, der im Westen von Rio eine Villa im selben Nobelviertel wie Bolsonaro besitzt und dort auch verhaftet wurde, hatte eine Liebesbeziehung mit dem jüngsten der vier Bolsonaro-Söhne. Vom Fahrer des Tatfahrzeugs wiederum existiert ein Foto, das ihn Arm in Arm mit Jair Bolsonaro zeigt. Der Präsident verteidigte sich: Es gebe tausende Fotos von ihm mit Polizisten. Zufall oder nicht, in Brasilien machen nun wilde Theorien die Runde.
Frage nach dem Tatmotiv nach wie vor unbeantwortet
Die Spekulationen schießen auch deswegen ins Kraut, weil die Ermittler eine der wichtigsten Fragen bislang nicht beantwortet haben: War es ein Auftragsmord oder handelten die Täter aus persönlichem Hass auf die Politikerin der kleinen Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL)?
Franco, eine charismatische 38-Jährige, stand als schwarze und bisexuelle Frau aus einer Favela symbolhaft für einen Aufbruch der brasilianischen Politik. Diese wird immer noch von weißen konservativen Männern und ihren Clans dominiert. Vor allem junge Brasilianer skandieren deswegen bis heute Francos Namen auf Demonstrationen und Konzerten, man liest ihn auf Hauswänden, sieht Francos Antlitz auf T-Shirts. Roger Waters, der einstige Mitbegründer und ehemalige Bassist von Pink Floyd, holte Francos Familie während seiner Brasilien-Tournee auf die Bühne, eine Sambaschule ehrte die Politikerin beim diesjährigen Karneval. Sie ist ein Symbol für ein gerechteres Brasilien. Und als solche bei Brasiliens extremer Rechter tief verhasst.
Zudem gefährdete Francos Arbeit offenbar die Geschäfte von Rio de Janeiros rechten Milizen, die mit Schutzgelderpressung, Landtitelfälschung, illegal errichteten Gebäuden und Auftragskriminalität das große Geld machen. Es ist nachgewiesen, dass einer von Bolsonaros Söhnen enge Verbindungen zu den Milizen hat, die meistens aus ehemaligen Polizisten bestehen. Flavio Bolsonaro ist heute Senator in Brasilia. Zuvor war er Abgeordneter in Rio de Janeiros Landesparlament. Dort beschäftigte er Angehörige eines Milizionärs und stellte einen Kriminellen als Fahrer ein. Und: Er stimmte als einziger Abgeordneter gegen die posthume Ehrung der ermordeten Politikerin. In den Augen vieler Brasilianer macht ihn das verdächtig, etwas mit dem Mord zu tun zu haben.
Der Chef von Rios Mordkommission, Ginilton Lages, betonte, dass nach der Verhaftung der beiden Täter nun die zweite Phase der Ermittlungen beginne: die Suche nach den Motiven. Er gab zu, dass man in der Frage bislang noch "keine Ahnung" habe.
Die Ermittlungen im Fall Marielle Franco zogen sich deswegen ein ganzes Jahr hin, weil die Polizei wegen des professionellen Vorgehens der Täter lange im Dunkeln tappte. So gab es keine Zeugen, weder die Tatwaffe noch das Tatfahrzeug wurden bislang gefunden. Es gelang den Ermittlern erst über den mühsamen Abgleich von Handydaten und die Auswertung von Verkehrskameras, den Mördern auf die Spur zu kommen. Derweil wurden die Untersuchungen von falschen Zeugen behindert, die Rechnungen im Milizionär-Milieu begleichen wollten. Offenbar gab es auch innerhalb der Polizei Versuche, die Ermittlungen zu sabotieren. Stellenweise drohte Brasiliens Generalstaatsanwältin damit, den Fall der Bundespolizei zu übergeben.
Nachdem die Frage nach den Mördern Francos beantwortet zu sein scheint, wartet Brasilien nun auf weitere Erklärungen. Warum musste die linke Nachwuchspolitikerin sterben?